enige Wochen nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 reiste Redakteur Bernd Melichar nach New York City, um über diese verwundete Stadt und ihre traumatisierten Menschen zu berichten. 20 Jahre ist das schon her, und 9/11 ist seither das ikonische Kürzel für die Terroranschläge in Manhattan und anderswo in den USA. Mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan und einem geschundenen Land, das jetzt noch mehr als all die Jahrzehnte zuvor ins Chaos fällt und das zu Recht als „Friedhof der Großmächte“ bezeichnet wird, schließt sich zum „Jubiläum“ ein blutiger Kreis.
Damals, am „Ground Zero“: Ein riesiges Loch, vereinzelt dringen noch Rauchschwaden aus dem Krater, dreckverschmierte Bauarbeiter räumen Schutt weg; Schaulustige haben den Anstand fallengelassen, dafür heben sie Kameras und Handys hoch. Abgeschmackter Katastrophen-Tourismus kennt keine Grenzen. Nur wenige Meter weiter stehen Menschen, die „Missing“-Zettel an eine Wand heften.
Die Stadt, die angeblich niemals schläft, hat am 11. September einen Albtraum erlebt, aus dem sie auch Wochen später noch nicht erwacht ist. Ein Blick ins Notizheft von damals: „Die Normalität stockt, beim Klang von Sirenen blicken die Menschen auf den Straßen panisch nach oben in den Himmel“, steht da geschrieben. Und: „Die Stadt – eine stolze, unantastbare Diva – hat ihr Pokerface verloren und staunt jetzt über die eigene Verwundbarkeit. Die Gesichtszüge der Metropole und ihrer Menschen sind weich und mild geworden – und ängstlich.“
ew York City wenige Wochen nach 9/11: Bei Macy’s am Herald Square werden die Schaufenster bereits mit Weihnachtsdeko geschmückt, die Jogger durch den Central Park schnaufen schon dampfende Atemwolken aus, die Temperaturen sind frostig. Während bei „Katz’s Delicatessen“ üppige Pastrami-Sandwiches verdrückt werden und die Harry&Sally-Fotos längst einen öligen Gelbstich angenommen haben, wärmen sich unweit davon – im East River Park – Obdachlose an Blechfässern, in denen sie Feuer entzündet haben. Ganz hat es Rudolph Giuliani, damals Bürgermeister, nicht geschafft, die Homeless People durch seine rabiate Zero-Tolerance-Politik aus der Stadt zu drängen. Doch Schwäche ist in diesen Tagen und Wochen nicht gefragt, jetzt wollen Staat und Stadt Stärke demonstrieren. Der geballte Patriotismus weht in Form von US-Flaggen von nahezu jedem größeren Gebäude, die Souvenirgeschäfte machen mit allem, auf dem das sternenbesetzte Banner aufgedruckt ist, ein gutes Geschäft. Besonders beliebt sind die nicht mehr existierenden Türme des World Trade Centers – als Schlüsselanhänger.
„Treffen mit dem Chief“ steht im Notizbuch von damals. Der Chief, das ist John Jonas vom Fire Department New York. An einer Fensterscheibe seiner Station kleben noch die Fotos von elf Feuerwehrmännern dieser Einheit, die am 11. September beim Einsatz im World Trade Center ums Leben gekommen sind. Jonas, ein Riesentrumm von einem Mann und von den Medien gerne als „big silent guy“ bezeichnet, hat an diesem Tag Geschichte geschrieben. „Ich habe gehofft, dass es noch mehr solche Wunder wie unseres geben würde“, sagt dieser große, stille Kerl. Wunder? Ja, auch wenn man nicht religiös begabt ist, kann man das, was Jonas erlebt hat, durchaus als Wunder bezeichnen. Er war an diesem 11. September im Nordturm im Einsatz. „Dann hörten wir dieses Geräusch, das noch niemand zuvor gehört hat.“ Der Südturm stürzte ein! Jonas und seine Männer kämpften sich wieder den Nordturm hinunter – als plötzlich auch dieser kollabierte. Jonas, seine Männer und eine ältere Frau, Josephine Harris, werden unter Tonnen von Stahl, Glas und Beton begraben. Doch sie alle überleben in einer Art Schuttblase. Stundenlang sind sie eingeschlossen, dann entdeckt Jonas einen Schacht, durch den Sonnenlicht dringt. Die Rettung.

John Jonas, Fire Department New York
„Ursula U., Rockefeller Center“ steht im alten Notizbuch. Von einem Wunder kann die Grazerin Ursula Ueltzhoeffer, damals 34 Jahre alt und seit 1984 in den USA, nicht erzählen. Ihr Mann John arbeitete im Nordturm des World Trade Centers. Das Paar hat drei Kinder, im Jahr 2001 sieben, fünf und drei Jahre alt. „John war schnell tot, er hat nichts gespürt, das hoffe ich so sehr“, sagt die Steirerin und lässt ihren Blick um den Platz streifen. „Hier waren wir oft mit den Kindern, um den Weihnachtsbaum zu bewundern“, sagt sie – und entschuldigt sich für die Tränen. An die Zukunft will Ueltzhoeffer zu diesem Zeitpunkt nicht denken: „Wozu Pläne, wenn von einer Sekunde auf die andere alles weg sein kann?“

Ursula Ueltzhoeffer
Die Nacht senkt sich über New York. Die Auslagen von Macy’s leuchten weihnachtlich, die Blechfässer der Obdachlosen geben Wärme, die US-Flaggen wehen im Wind. Das Notizbuch von damals trägt das Datum „November 2001“. Die Schrift ist leicht verblasst. Die Erinnerung daran, was drinsteht, ist es auch nach 20 Jahren nicht.
Die Anschläge des 9. September 2001 veränderten die Welt nachhaltig. Besonders das Bild der beiden brennenden Türme des World Trade Centers brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein. Ein Rückblick auf jene schicksalsvollen Vormittagsstunden.
07:49 Uhr
Der Flug 11 der American Airlines startet mit 92 Menschen, darunter fünf Terroristen der Al-Kaida, und mit dem Ziel Los Angeles in Boston.
08:14 Uhr
Flug 175 der United Airlines hebt mit 65 Personen von Boston ebenfalls Richtung Los Angeles ab. Auch hier ist eine Fünfergruppe Terroristen an Bord.
08:19 Uhr
Eine Stewardess berichtet per Funk über eine Entführung von Flug 11.
08:20 Uhr
Flug 77, eine Boeing 757 der American Airlines, startet mit dem Ziel Los Angeles in Washington. Auch hier sind fünf Terroristen an Bord.
08:24 Uhr
Der Flughafen Boston hört eine Ansage des Terroristen Mohammed Atta über mehrere entführte Flugzeuge.
08:41 Uhr
Flug 93, eine Boeing 757 der United Airlines, startet von Newark und soll plangemäß nach San Francisco fliegen. Es sind 44 Menschen an Bord, darunter vier Terroristen.
08:46 Uhr
Flug 11 rast in den Nordturm des World Trade Centers. Behörden gehen zunächst von einem Unfall aus.
09:03 Uhr
Flug 175 trifft den Südturm des World Trade Centers. Nun ist klar, dass es sich um einen Terroranschlag handelt.
09:05 Uhr
US-Präsident George W. Bush, der gerade eine Schule in Florida besucht, erhält die Nachricht vom Einschlag in den Südturm.
09:40 Uhr
Die Flugbehörde stoppt landesweit alle Flüge, sämtliche Maschinen müssen landen.
09:43 Uhr
Der Flug 77 trifft mit etwa 850 km/h das Pentagon (Verteidigungsministerium). 189 Menschen sterben, die Schäden am massiv gebauten Gebäude sind verhältnismäßig gering.
09:59 Uhr
Der Südturm des World Trade Centers stürzt 56 Minuten nach dem Einschlag ein.
10:03 Uhr
Passagiere von Flug 93 erfahren von den Anschlägen und versuchen die Entführer zu überwältigen, die Maschine wird im Bundesstaat Pennsylvania zum Absturz gebracht. Es gibt keine Überlebenden.
10:28 Uhr
Der Nordturm des World Trade Centers stürzt ein.
ie Anschläge vom 11. September sind vor allem mit einem Namen verbunden: Osama bin Laden. Hinter ihm standen getreue Gefolgsleute, die den Albtraum Wirklichkeit werden ließen. Vorbereitung und Durchführung der Anschläge – die die ganze Welt erschütterten, eine Supermacht ins Wanken brachten und sie später sogar in mehrere Kriege trieb – kostete die Terrororganisation Al-Kaida nur etwas weniger als eine halbe Million US-Dollar. So steht es jedenfalls im Bericht der überparteilichen US-Kommission zur Aufarbeitung der 9/11-Anschläge. Alle 19 Attentäter kamen in den Flugzeugen ums Leben, andere Al-Kaida-Kämpfer wurden später vom US-Militär in Afghanistan oder Pakistan getötet. Einige sind bis heute im US-Gefangenenlager Guantánamo inhaftiert und warten auf ihren Prozess. Anfang 2021 hätte dieser stattfinden sollen und wurde wegen der Corona-Pandemie verschoben.
Eine besondere Rolle bei den Anschlägen spielten die Mitglieder der Hamburger Terrorzelle. Sie waren in den 1990er- Jahren als Studenten nach Deutschland gekommen. Der Ägypter Mohammed Atta, der später einer der Todespiloten wurde, galt als ihr Anführer. In einem Terrorcamp in Afghanistan wurden Mitglieder der Gruppe 1999 von Bin Laden für den seit Langem von ihm geplanten Anschlag mit Flugzeugen rekrutiert.
Der Drahtzieher der Anschläge, Osama bin Laden – wurde wie kein anderer ein Synonym für islamistischen Terror und dadurch zum meistgesuchten Mann der USA. Doch wie kam es eigentlich dazu? 1957 wurde er in Saudi-Arabien als eines von bis zu 57 Kindern des Bauunternehmers Mohammed Awad bin Laden geboren. Er schloss sich 1979 den „Gotteskriegern“ an, die in Afghanistan gegen die sowjetischen Besatzer kämpften. Ein Wendepunkt soll der Golfkrieg 1991 gewesen sein, als US-Soldaten in Saudi-Arabien stationiert waren. Danach wurde er ein Verbündeter der Taliban.
In den späten 90er-Jahren sorgten Al-Kaida zugeschriebene Anschläge, darunter jene auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, für großes Aufsehen. Das FBI erklärte ihn zum gesuchten Terroristen. Bald nach den 9/11-Anschlägen marschierten die USA in Afghanistan ein, doch Bin Laden entkam. Viele Islamisten verehrten und schützen ihn. Erst 2011 wurde er von US-Spezialeinheiten bei einem Einsatz in Pakistan getötet

Der Ägypter Mohammed Atta war einer der Todespiloten und galt als ihr Anführer und Trainer. Das Mitglied der Hamburger Zelle steuerte die erste gekaperte Boeing 767 in den Nordturm des World Trade Centers. Atta entstammte ursprünglich einer gemäßigten Mittelklassefamilie in Ägypten und studierte in Deutschland. Dort soll er sich auch radikalisiert haben.

Khalid Sheikh Mohammed wurde 2003 nahe der pakistanischen Hauptstadt Islamabad gefasst und den USA übergeben, die eine Belohnung von 25 Millionen Dollar ausgesetzt hatten. Der enge Vertraute von Osama bin Laden bezichtigte sich selbst in Verhören, nicht nur Chefplaner von 9/11 zu sein, sondern auch von rund 30 anderen Anschlägen – wie auf das World Trade Center 1993 und Bali 2002 – und Anschlagsversuchen, darunter auf die Ex-US-Präsidenten Bill Clinton und Jimmy Carter. Allerdings wurde er bei Verhören gefoltert. Er befindet sich im US-Gefangenenlager Guantánamo und wartet auf seinen Prozess.

Ebenfalls in Guantánamo inhaftiert ist Ramzi Binalshibh, Mitglied der Hamburger Zelle. Eigentlich hätte der 1972 geborene Jemenit der 20. Mann in den Flugzeugen werden sollen, doch er hatte kein US-Visum bekommen. Daher unterstützte er die Pläne logistisch und finanziell von Europa aus. Ein Jahr nach den Anschlägen konnte er in Pakistan festgenommen werden.

m April 2006 wurde am Ground Zero mit dem Bau eines neuen Wolkenkratzers begonnen. Das „One World Trade Center“ ist mit 541,3 Meter das höchste Gebäude New Yorks und auch der Vereinigten Staaten und ein Symbol dafür, dass sich die Stadt nicht unterkriegen lässt. Es wurde 2014 fertiggestellt. Doch die Neugestaltung des ehemaligen Standorts der Twin Towers ist noch nicht abgeschlossen: Derzeit wird dort das Ronald O. Perelman Performing Arts Center gebaut, mindestens zwei Wolkenkratzer sollen außerdem noch errichtet werden.
Texte: Bernd Melichar, Maria Schaunitzer
Grafiken: Silke Ulrich, Katharina Maitz
Interaktive Umsetzung: Jonas Pregartner
Grafik-Quellen: NY Times, APA, Washington Post, NIST.