
Von Thomas Golser
as sind sie wohl: Grenzen, an die die in den letzten Dekaden so unbekümmert durchgewunkene Globalisierung in Zeiten der Pandemie (und eines von Wladimir Putin zu verantwortenden Krieges) stößt. Gut 1800 Containerschiffe (von insgesamt 9000) stehen derzeit still bzw. im Meer vor vielen Häfen der Welt im monumentalen Rückstau. Vor allem China ist betroffen, die Häfen von Schanghai (Bild) und Ningbo-Zhoushan sind übervoll mit Containern – und verwaist: Seit Schanghai und seinen 23 Millionen Bewohnern Ende März ein Radikal-Lockdown verordnet wurde, herrscht auch im riesigen Hafengebiet größtenteils Stillstand. Die Frachtberge können nicht mehr gelöscht – Schiffe nicht mehr beladen werden.
Dimensionen und Effekte sind enorm: Gemessen wird die „Hafengröße“ über sein Umschlagvolumen in Standardcontainern, „TEU“ genannt. Schanghai ist der weltweit bei Weitem größte Umschlagort für Waren (2019: 43,3 Millionen TEU), Ningbo-Zhoushan (27,5 Millionen TEU) folgt nach Singapur (37,2 Millionen TEU) auf Platz drei. Die Logistikprobleme sind auch in Europa beträchtlich:
Entlang der Nordseeküste etwa verharren viele Frachtschiffe, die in Hamburg oder Bremerhaven anlegen sollten. In den Häfen geht indes längst der Platz für sich weiter stapelnde Container aus: Auch hier fehlt pandemiebedingt Personal, auch hier sind Verwerfungen im Warenverkehr akut. Die Schockwellen zeigen, dass die Welt – so uneinig sie ist – nur im Verbund operiert bzw. funktionieren kann. Und dass das, woran sie krankt, längst nicht mehr an Grenzen festzumachen ist. Erde, du verquerer Planet.
Foto: Imago/Xinhua

Von Thomas Golser
er Frühling hat eine erlösende Kraft“, wusste bereits der so achtsame wie kluge Wilhelm Busch – und es stimmt schon: Am Ende haucht uns doch die Natur auf ihre unumkehrbare, unumstößliche und unübertroffene Art wieder neues Leben ein. Sie steht für Gewissheit, Normalität und Freude in jenem Maß, das die Seele braucht. In einer Welt, die von einer noch nicht ausgestandenen Krise in eine menschgemachte Tragödie taumelte, ist es besonderer Balsam, wenn auf der nördlichen Halbkugel (nach dem aktuellen, grauslichen Spätwintereinbruch!) der Frühling Leben in all seiner Fülle zurückbringt.
Vieles mutet dann etwas leichter an – egal, ob man nun im heimischen Wald oder Garten ist oder, wie auf diesem Foto, in Chinas östlicher Provinz Jiangsu.
Nicht nur in Japan wird die Kirschblüte („Sakura“) zelebriert und als das wichtigste kulturelle Symbol für Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit hochgehalten. Auch in China erfreut sich Mensch an jener rosa-weißen Blütenpracht, die ab Ende März voll einsetzt und in manchen Regionen des Landes mit seinen vielen verschiedenen Klimazonen sogar schon ab Jänner zu bewundern ist. Dieses Mädchen in seiner traditionellen Tracht (und mit kunstvoll drapiertem Haar) steht in Nanjing unter einer der insgesamt über 70 Kirschbaum-Arten, die in China gedeihen.
Meisterin Natur ergeht sich in den kommenden Wochen in schwelgerisch bunten Farbpaletten, läutet den Neuanfang ein und folgt dabei doch stets ohne jeden Widerstreit ihren sich selbst genügenden Bahnen. Mensch könnte viel von ihr lernen. Man kann auch sagen: Alles in der Natur ist Mitteilung. Hören wir ihr zu?
Foto: APA/AFP/STR

Von Bernd Melichar
r ist – je nachdem, welche Seite, ob Freund oder Feind, ihn betrachtet und bewertet – vieles: WikiLeaks-Ikone, Cypherpunk, der erste Intellektuelle der digitalen Kultur, politischer Häftling, Anarchist, Demagoge, Landes- und Geheimnisverräter, Ideologe, Charismatiker, Messias, Manipulator, und jetzt ist Julian Assange – bereits zum zweiten Mal – auch Ehemann. Am Mittwoch dieser Woche hat der 50-jährige Australier in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis seine langjährige Partnerin und Anwältin Stella Moris geheiratet. Ob Assange, dem vorgeworfen wird, mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheime Informationen zu Militäraktionen im Irak und Afghanistan veröffentlicht zu haben, in die USA ausgeliefert wird, entscheidet nun die britische Innenministerin Priti Patel. Falls ja, drohen ihm dort 175 Jahre Haft.
Das Foto, das vor dem Belmarsh Prison entstand, in dem Assange einsitzt, hat eine surreale, fast bipolare Anmutung. Auf der einen Seite Pressefotografen und von der Polizei zurückgehaltene Demonstranten; eine Schleierlänge entfernt die prächtige Braut im Westwood-Kleid, die sich in diesem Moment natürlich bewusst ist, dass diese Aufnahme um die Welt gehen wird. Der Gesichtsausdruck von Stella Moris ist schwer zu enträtseln. Eine Spur Traurigkeit ist darin zu lesen, aber auch Trotz, Stärke und Selbstbewusstsein. Ihre Heirat mit Assange sei eine „Liebes- und Widerstandserklärung“, so die gebürtige Südafrikanerin. Dass die Braut nicht weiß, die Farbe der Unschuld, gewählt hat, sondern silbergrau, war, falls bewusst, eine kluge Entscheidung. Denn die Unschuld ist ein rares Gut und scheues Wesen. Im Graubereich hingegen findet das Leben statt; wohl auch jenes des frischvermählten Paares.
Foto: AP/Matt Dunham

Von Bernd Melichar
as für ein ekstatischer Farbenrausch, was für ein Fest für alle Sinne; die Menschen inmitten der roten Pracht, die mit gelben Blütenblättern durchweht ist, kaum erkennbar. Es sind Frauen, indische Frauen, Witwen, genauer gesagt, denen die Teilnahme am Holi-Fest meist verwehrt bleibt, sollen sie sich doch irdischer Freuden enthalten, so das traditionelle Narrativ. Kaum vorstellbar, aber noch bis ins Jahr 1819 mussten in Indien Frauen ihren Männern in den Tod folgen, Stichwort Witwenverbrennung, dann erst galten sie als „ideale Gattin“.
Sogar der Schatten einer Witwe gilt als unheilvoll, bis heute, doch jetzt treten diese Frauen immer stärker aus dem Schattenreich der Verdrängung, Verfolgung und Verdammnis, und treten ans Licht – und ins Reich der Farben. Mit dem Holi-Fest wird nach hinduistischer Tradition der Frühling willkommen geheißen, das Gute soll über das Böse siegen, Dämonen werden vertrieben. Dafür besprengen die Menschen einander mit gefärbtem Wasser und Farbpulver.
Inzwischen wird dieses Fest auch bei uns und in anderen Ländern als ausgelassenes Event gefeiert. Ach ja, Frühling. Man vergisst in diesen dunklen Tagen leicht, dass das Helle, das Licht, wieder Oberhand gewinnt und der Rausch der Farben auch vor der eigenen Haustür langsam einsetzt. Es ist Frühlingsbeginn, und weil diese Jahreszeit bekanntlich ein Gedicht ist, soll hier auch ein Dichter zu Wort kommen: „Sie können alle Blumen abschneiden, aber sie können den Frühling nicht verhindern“, hat der chilenische Poet Pablo Neruda geschrieben, der zeitlebens gegen Diktaturen angekämpft hat. Womit wir wieder bei den Dämonen wären und jenem Fest, auf dem sie vertrieben werden sollen. Es wird dafür wohl sehr viel Farbe vonnöten sein.
Foto: Getty/Anadolu Agency

Von Bernd Melichar
eute noch findet sich der ikonische Spruch auf T-Shirts, Schals, Häferl, Buttons und anderem Ramsch, mutet aber eigenartig gestrig an, nostalgisch, peinlich fast, obwohl er in diesen Tagen und Wochen gerade wieder an grausamer Aktualität gewinnt: „Make love, not war“, im Deutschen schon immer irgendwie verhatscht: „Mach Liebe, nicht Krieg“. Eine deftigere Version davon lautet: „Bumsen statt Bomben“. Es war der knackig-naive Slogan der Hippies, der Flower-Power-Bewegung, der Blumenkinder also, die damit um 1967 gegen den Kalten Krieg und den Vietnamkrieg protestierten.
Gerne verwendeten die Demonstranten von damals die Sonnenblume als Symbol ihrer kunterbunten Friedensbewegung; jene Pflanzenschönheit, deren Eigenart es ist, sich immer dem Sonnenlicht zuzuwenden, der Wärme und dem Leben somit; dem Gegenentwurf von Kälte, Dunkelheit und Tod.
Das Foto nebenan ist in Reno, Bundesstaat Nevada, entstanden. Die junge Frau von heute setzt ebenfalls auf Flower-Power und drapiert an diesem Denk- bzw. Mahnmal gegen den aktuellen Krieg in der Ukraine eine Sonnenblume. Auch der Oberarm der Frau ist umrankt von einem farbenprächtigen Blumen-Tattoo.
Diese Aktivistin ist somit Teil einer weltweiten Solidaritätsbewegung, die gegen den russischen Aggressionsbären anfaucht, was diesen wohl ebenso kalt lässt wie das unermessliche Leid, das er seinem angeblichen „Brudervolk“ gerade zufügt.
Die Blumen sind schön, die Gesten wichtig. Was das Foto betrifft, lohnt sich aber ein näherer Blick auf den Rucksack der Frau. Er ist verziert mit den Flaggen unterschiedlichster Länder: Albanien, Montenegro, Georgien, Griechenland, Türkei, Usbekistan, Indien, Nepal, Turkmenistan. In vielen dieser Länder tobten oder toben noch immer Kriege, Bürgerkriege, kriegerische Auseinandersetzungen, bewaffnete Konflikte oder wie auch immer man das nennt, wenn Menschen von Machthabern losgeschickt werden, um mit modernen Keulen aufeinander loszugehen. Es ist zu befürchten, dass das mehr als 2000 Jahre alte Zitat von Platon immerwährende Gültigkeit hat, den Sonnenblumen zum Trotz: „Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.“
Foto: Imago/Zuma Wire

Von Bernd Melichar
r heißt Alexej, und seine Mutter konnte ihn kaum bändigen, als die beiden nach einer stundenlangen Busfahrt in Polen angekommen sind. Da ist Alexej sofort wie ein Pfitschipfeil losgesaust, hat im Lager mit den Helfern abfangen gespielt, sich mit einem pickigen Lutscher das Gesicht verschmiert und dann so fröhlich und frech gegrinst, dass die Sonne gegen sein Strahlen keine Chance hatte. Alexej und seine Mutter sind aus der Ukraine geflüchtet. Der Vater musste dortbleiben. Kämpfen.
Die Mutter kämpft indessen mit den Tränen. Das sagt und schreibt sich so leicht: ungewisse Zukunft. Alexej, seine Mutter und zigtausende andere Flüchtlinge aus der Ukraine, die hier auf ihrer Odyssee Zwischenstation in einem polnischen Hilfslager machen, sind die Personifizierung davon. Und vielleicht sollten wir einmal versuchen, das vielbemühte Wort Empathie in seiner ganzen Dimension zu erfassen. Das Wort bedeutet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen und Gedanken eines anderen Menschen zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Noch ist die Bereitschaft, diesen verzweifelten Vertriebenen zu helfen, immens groß. Doch Empathie hat keine lange Haltbarkeitsdauer. Und es ist zu befürchten, dass die Solidargemeinschaft bröckelt und sich die kaltschnäuzigen Ich-AGs wieder durchsetzen. Die Ukraine ist doch gemütlich weit weg, auch wenn das Land in einigen Autostunden zu erreichen ist, und außerdem haben wir selbst genügend Probleme am Hals – oder etwa nicht?
Es geht weiter. Die Mutter hat sich gestärkt und frische Kleidung bekommen, Alexej einen zweiten Lutscher, mit dem er sich dann auf der Weiterfahrt im Bus das Gesicht verschmieren kann. Wohin genau es geht, ist ungewiss, aber zumindest führt der Weg in die Sicherheit. Alexej greift zum Abschied von innen an die Scheibe des Busses, die Hand draußen berührt das staubige Glas. Vorher hat Alexej noch Smileys ans Fenster gezeichnet, die Hand draußen auch. Das hat Alexej so lustig gefunden, dass er gegluckst hat vor Vergnügen, und da war es dann wieder, dieses Lächeln, das das Strahlen der Sonne locker in den Schatten stellt.
Alexej ist zum Glück zu jung, um das Leid im Gesicht seiner Mutter zu verstehen und die Wirrnisse und Schrecknisse rund um ihn. Aber die Auswirkungen dessen, was die Erwachsenen heute verbrechen, verabsäumen oder veruntreuen – sei es der Frieden oder die Umwelt – müssen er und alle Kinder dieser Welt morgen tragen. Und das ist kein Zuckerschlecken.
Foto: Andreas Edler-Retter