Von Veronika Dolna, Andreas Lieb und Stefan Winkler
m Anfang stand ein Schwur. Niemals nach dem von den Nationalsozialisten an den Juden verübten Massenmord, gelobten die Unterzeichnerstaaten vor 70 Jahren, sollten unschuldige Menschen in die verzweifelte Lage kommen, auf der Flucht vor politischer Verfolgung vergeblich um Schutz betteln zu müssen.
Seither definiert die am 28. Juli 1951 aus der Taufe gehobene Genfer Flüchtlingskonvention, wer als Flüchtling gilt, nämlich alle Menschen, die „wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ verfolgt werden. Und sie schreibt auch fest, welcher Schutz und welche medizinische Versorgung, Bildung und Sozialleistungen ihm dadurch in einem Aufnahmeland zusteht.
Was als europäisches Projekt aus den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs mit seinen Millionen Toten und Vertriebenen geboren wurde, hat längst globale Ausmaße angenommen. 146 Staaten sind der als zivilisatorische Errungenschaft gefeierten Konvention beigetreten, Österreich bereits 1955. Ein Jahr später kam mit den von Sowjets niedergewalzten Ungarnaufstand der erste Bewährungstest, weitere folgten. Doch mit dem Aufkommen großer Wanderungsbewegungen aus Afrika begann sich gerade in Europa die Stimmung zu wandeln.
<b>Factbox: Die Genfer Konvention</b>
Das „Abkommen über die Rechtsstellung für Flüchtlinge“ wurde am 28. Juli 1951 in Genf verabschiedet und 1967 erweitert.
Die Konvention enthält eine Reihe von Rechten und Pflichten der Flüchtlinge gegenüber ihrem Gastland.
Der Eckpfeiler ist das Prinzip der Nicht-Zurückweisung: Ein Flüchtling darf nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit ernsthaft bedroht ist.
Als politische Zäsur darf die große Flüchtlingskrise 2015 gelten, als über eine Million Menschen aus dem Nahen Osten auf der Flucht vor dem Krieg in die EU strömten. Seitdem schotten sich die Europäer immer hermetischer ab und auch die kritischen Stimmen, die die Konvention für ein untaugliches Instrument halten, um der Massenmigration auf der Höhe der Zeit zu begegnen, mehren sich. Dabei zählen nicht nur rechtspopulistische Politiker wie FPÖ-Chef Herbert Kickl zu den Skeptikern, sondern auch anerkannte Experten.
Die Konvention sei heute völlig irrelevant meint der Oxford-Ökonom Paul Collier, der sich mit den Folgen von Migration beschäftigt. Ging es nach 1945 im aufkeimenden Kalten Krieg darum, einzelnen vom Staat Verfolgten aus dem sowjetischen Einflussbereich zu helfen, seien Flüchtlinge heute überwiegend keine politisch verfolgten Einzelpersonen. Vielmehr machten sich aus zerfallenden Staaten oder auf der Flucht vor Hunger Millionen auf eigene Faust auf den Weg, wodurch ein gewaltiger Sog entstehe. „Wir haben also dieses Etikett, Flüchtling, dabei ist das heute ein völlig anderes Problem, und die Menschen brauchen eine völlig andere Antwort“, so Collier zum IPG-Journal.
Dem widerspricht der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus gleich zweimal: „Das Bild, die Genfer Flüchtlingskonvention sei nur für einige wenige geschaffen worden, ist historisch falsch“. Tatsächlich sei die Erfahrung der Hunderttausenden Juden, die hilflos im Dritten Reich festsaßen, zentral gewesen. Auch die oft behauptete Massenmigration gebe es nicht. „Das Jahr 2015 war eine totale Ausnahme.“ In den letzten vier Jahren seien nur noch sehr wenige in die EU gelangt, im ersten Halbjahr 2021 über das ganze Mittelmeer verteilt überhaupt nur 35.000. Knaus: „Das ist als irreguläre transkontinentale Migration aus Afrika und Nahost alles andere als eine Masseneinwanderung.“
Worum es daher gehe, sei, die EU in die Lage zu versetzen, rasch zu prüfen, wer Schutz benötige und wer nicht, und dann in einem entscheidenden nächsten Schritt, ganz im Sinn der Konvention all jene zurückzuschicken die nicht schutzbedürftig seien. Geschehe das konsequent und würde Europa auch legale Wege der Zuwanderung eröffnen, „dann“, so Knaus, „hätte die Genfer Konvention in den nächsten 70 Jahren genauso viel Sinn wie in den 70 davor.“
Auch der Grazer Völkerrechtler Wolfgang Benedek findet die Konvention noch zeitgemäß. Erst 2018 wurde sie durch den UN-Asylpakt bekräftigt, dem auch Österreich zustimmte. zudem beziehe sich die Grundrechtecharta der EU direkt auf die Konvention und mache sie zu europäischem Recht. Benedek: „Die Konvention ist kein Relikt aus der Vergangenheit sondern das Hauptinstrument für den Schutz Geflüchteter.“
Auch wenn es Grenzen, Probleme und Verbesserungsbedarf gebe, erfülle sie ihren Zweck, so Benedek. Die Flüchtlingskonvention trenne Fluchtgründe und Migration ganz klar. Hier auch in der Anwendung zu unterscheiden, sei Aufgabe der nationalen Behörden. Das funktioniere in der Praxis gar nicht so schlecht: „Das System differenziert sehr wohl.“
Etwas anders sieht das wenig überraschend Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP): „Es ist mehr als gerechtfertigt, sich Verträge, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, nochmals anzuschauen. Was vor 70 Jahren notwendig war, ist heute in einer globalisierten Welt mit globalen Flüchtlingsströmen in vielen Bereichen nicht mehr zeitgemäß. Es braucht treffsichere Kriterien.“
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