Von Mile Stojić
Lyriker und Essayist, 66, lebt im bosnischen Sarajevo.
ins der erschütterndsten Bilder aus dem Leben und Tod des sozialistischen Jugoslawien ist für mich jedenfalls das Foto mit dem zerstörten Gebäude der Sarajevoer Tageszeitung „Oslobođenje“. Ich habe dort von 1981 bis 1986 als Journalist und Kulturredakteur gearbeitet.
Beginnen wir mit dem Impressum, in dem steht: „Am 30. August 1943 wurde in Donja Trnova bei Bijeljina die erste Nummer der Zeitung ‚Oslobođenje‘ gedruckt.“ Der Name des Blattes steht für den Weg zur Freiheit als Symbol und als Prozess. Oslobođenje ist eins der schönsten Wörter der bosnischen Sprache, weil dieses Wort die permanente Eroberung der Freiheit, das Labyrinth der Freiheit bedeutet. Seit 1945 erscheint die Zeitung in Sarajevo.
Die Zeitung „Oslobođenje“ war ein Synonym für einen Staat, der Bosnien und Herzegowina im sozialistischen Jugoslawien hieß. Im Sozialismus verteilte das Blatt Pillen für ideologischen Optimismus, wachte über die sozialistische Rhetorik, blieb aber immer bosnisch. Anlässlich des 40. Jahrestags ihres Erscheinens bekam die Zeitung als Sprachrohr einer Utopie den Orden der Arbeit mit roter Fahne verliehen. Die ersten Seiten des Blattes waren dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gewidmet, während die anderen offen waren für alle Aspekte und Arten von Kunst und Kultur. Niemand von uns ahnte auch nur, dass die Utopie bald zur Dystopie werden würde.
Anfang der Neunziger, als die Tschetniks von Karadžić das „Oslobođenje“-Hochhaus täglich mit Hunderten von Granaten überschütteten, notierte Kemal Kurspahić, der während des Krieges Herausgeber des Blattes war: „Sie beschossen es mit Maschinengewehren, Granatwerfern, Präzisionsgewehren, Panzern; oft stand es ganz in Flammen; es wurde zerstört und in Asche verwandelt, aber aus dem Feuer und der Asche kam jeden Kriegsmorgen eine neue Nummer der Zeitung auf die Straßen Sarajevos.“
Die Armee von Karadžić wusste gut, worauf sie schoss: Indem sie „Oslobođenje“ zerstörte, zerstörte sie die Idee des Staates Bosnien und Herzegowina selbst. „Oslobođenje“ erhielt im Krieg achtzehn internationale Preise, weil das Blatt die wahren Werte erkannte und für sie kämpfte. Und heute, wo Karadžić in einem englischen Gefängnis seine Strafe verbüßt, zerstört sich „Oslobođenje“ von allein wie ein sinnlos gewordener Wachposten. Die Ruine des Gebäudes privatisierte ein Sarajevoer Tycoon und errichtete an seiner Stelle ein Luxushotel, und die Zeitung kaufte der größte bosnische Bierproduzent.
Rettet „Oslobođenje“!, es ist, als hörte ich aus dem Grab die Stimme meines verstorbenen Freundes Ismet Kreso, des Direktors des Blattes, der dieses Presse- und Kulturgebäude errichtet hatte und zusehen musste, wie es von den Kräften zerstört wurde, die dieses Land vernichten wollten.
Dieser Stimme schließt sich wie ein Echo alles an, was ich in diesen jämmerlichen Jahren meines Lebens stammelnd zu sagen versuchte.
Aus dem Bosnischen von
Katharina Wolf-Grießhaber
Fotos: KK (2).
Die Serie
Teil 1/8: Bora Ćosić – Der Tag, an dem ich mein Land verlor
Teil 3/8: Ivana Sajko – Die Nackerten
Teil 4/8: Jeton Neziraj – So viel Geschichte
Teil 5/8: Aleš Šteger – Der Staffellauf
Teil 6/8: Lászlo Végel – Die Joghurt-Revolution
Teil 7/8: Jana Radičević – Was uns geblieben ist
Teil 8/8: Rumena Bužarovska – Volgogradska, 1987