Von Jeton Neziraj
Jahrgang 1977, Theaterautor. Lebt in Prishtina.
ieses Foto, das die Frontfassade des kosovarischen Nationaltheaters zeigt, wurde unmittelbar nach Beendigung des Kosovokriegs geschossen. Der Autor der Graffiti hatte womöglich nur nach einer großen, glatten, weißen Fläche gesucht und gar nicht gewusst, dass sie zu einem Theatergebäude gehörte. Unübersehbar sind jedoch seine Begeisterung über das Ende des Krieges und sein Wunsch, einigen der Hauptakteure bei der Befreiung des Kosovo auf seine Art für ihren Beitrag zu danken. Clinton, Tony Blair, Schröder, Jacques Chirac, Solana, Wesley Clark, die NATO, die UÇK und Albright finden sich unter den Erwähnten. Bei einigen der Namen war er sich der originalen Schreibweise nicht sicher, deshalb benutzte er die albanische. Am Ende steht ein Thank you!
Jenseits dieser äußerlichen Details enthalten die chaotischen, ohne ein besonderes Gefühl für Ästhetik aufgemalten Graffiti auf der Fotografie nicht bloß eine Chronik der eben zu Ende gegangenen, so dramatischen wie diffusen Ereignisse, sondern deuten auch bereits das bevorstehende Chaos im Land an. Die Nachkriegszeit im Kosovo stellte ein absolutes Tohuwabohu dar, eine Arena von Kollisionen und Konflikten, Kontroversen und Abrechnungen zwischen dem „friedlichen“ und dem „kriegerischen“ Flügel, den „Einheimischen“ und den „Internationalen“, denen, „die gekämpft hatten“ und denen, „die weggegangen waren“, den „Albanern, die aus den Flüchtlingslagern zurückkehrten“ und den „Serben, die sich für den Verbleib entschieden“.
Ich frage mich, was wohl wäre, wenn man dem Urheber der Graffiti von damals noch einmal den Pinsel in die Hand drücken und ihn ersuchen würde, seinen heutigen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ich denke, Angela Merkels Name würde erscheinen, mit Sicherheit auch der von Joe Biden, wenn er nicht einfach „USA“ schriebe. Und daneben stünden wahrscheinlich die Namen zweier berühmter Sängerinnen kosovarischer Abstammung, Dua Lipa und Rita Ora. Hätte er sich inzwischen eine humorvollere, weniger ernsthafte Sicht auf die Dinge zugelegt, würde er womöglich auch noch Ferid Murad anführen, den Entdecker von Viagra, gleichfalls albanischer Herkunft. Und am Ende stünde auf Englisch vermutlich nicht mehr Thank you!, sondern We need visa liberalization! oder etwas Ähnliches.
Sollte der Typ aber zu den Verzweifelten in diesem Land zählen, von denen es nicht wenige gibt, könnte es nicht überraschen, bestünde sein Graffito nur aus einem knappen Fuck you!
Wie dem auch sei, ich mag dieses Foto, in dem so viel Geschichte steckt, so viel Vorahnung der vertrackten Zukunft eines kleinen Landes, das „mehr Geschichte produziert, als es konsumieren kann“, wie es für alle Nachfolgeländer des ehemaligen Jugoslawien gilt.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Fotos: teatri pas luftes, Getty
Die Serie
Teil 1/8: Bora Ćosić – Der Tag, an dem ich mein Land verlor
Teil 2/8: Mile Stojić – Oslobođenje (Befreiung)
Teil 3/8: Ivana Sajko – Die Nackerten
Teil 5/8: Aleš Šteger – Der Staffellauf
Teil 6/8: Lászlo Végel – Die Joghurt-Revolution
Teil 7/8: Jana Radičević – Was uns geblieben ist
Teil 8/8: Rumena Bužarovska – Volgogradska, 1987