Von Lászlo Végel
Der 80-Jährige lebt als Schriftsteller in Novi Sad, Vojvodina.
m 5. Oktober 1988 fuhr ich mit dem fast leeren Zug von Belgrad nach Novi Sad, es war eine milde Herbstnacht. Einer der Schaffner setzte sich auf halber Strecke müde auf die Bank. „Ich hörte eben, in Novi Sad sei die Revolution ausgebrochen“, sagte er zu seinem Kollegen. „Was für eine Revolution“, fragte dieser zurück, „das sanftmütige Volk der Batschka hat niemals eine Revolution gemacht.“ Nach wenigen Minuten schnarchten beide Schaffner laut.
Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass die Schaffner halbwegs recht gehabt hatten. Es war etwas geschehen, das die serbische kommunistische Leitung in Belgrad stolz als „Antibürokratische Revolution“ bezeichnete, das vom gemeinen Volk aber einfach nur die „Joghurt-Revolution“ genannt wurde. Die beiden hatten auch darin recht, dass nicht die sanftmütigen Menschen aus Novi Sad das Parteihaus der Provinz und das Gebäude der Regierung gestürmt hatten. Seit Monaten schon waren in ihrem Städtchen populistische südserbische und Belgrader Revolutionäre unter der Leitung des ‚Bundes der Kommunisten Serbiens‘ eingetroffen, die die Führung der Vojvodina beschuldigten, die Serben im Kosovo nicht zu schützen, sich dem Volk entfremdet und das einheitliche Serbien sabotiert zu haben.
Aber nicht sie bildeten in jener Nacht die eiserne Faust der Revolution, vielmehr wurden Arbeiter aus den nahe gelegenen Kleinstädten organisiert mit Bussen herangebracht, damit sie die Provinzleitung verfassungswidrig ablösten. Nur wenig später wurden die hungernden Proletarier an die Front geschickt, ihre Familien aber ließ man elend und hungrig darben.
An diesem Tag begann das absurde Drama, das sich selbst Alfred Jarry nicht hätte vorstellen können. Die kommunistische Partei, Inhaberin der Macht, putschte gegen ihre eigene Verfassung. An diesem Tag errang das berühmt-berüchtigte Memorandum der „Arbeitsgruppe der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ seinen ersten Sieg. Die Joghurt-Revolutionäre streckten auf ihren Tafeln unter der grellen Aufschrift „Ihr seid die letzte Hoffnung“ Porträts der kommunistischen Anführer in die Höhe.
An diesem Tag begann die Zerschlagung Jugoslawiens. Während das Mehrparteiensystem in den umliegenden Staaten unterging, erstarkte es in Serbien. An diesem Tag ließen extremistische nationale Tschetniks den kommunistischen Parteivorsitzenden hochleben. An diesem Tag loderte in Europa zum ersten Mal die nationalistische populistische Ultrarechte auf – unter Leitung der Kommunisten.
Aus dem Ungarischen von György Buda
Fotos: Muzej Grada Novog Sada, Isolde Ohlbaum
Die Serie
Teil 1/8: Bora Ćosić – Der Tag, an dem ich mein Land verlor
Teil 2/8: Mile Stojić – Oslobođenje (Befreiung)
Teil 3/8: Ivana Sajko – Die Nackerten
Teil 4/8: Jeton Neziraj – So viel Geschichte
Teil 5/8: Aleš Šteger – Der Staffellauf
Teil 7/8: Jana Radičević – Was uns geblieben ist
Teil 8/8: Rumena Bužarovska – Volgogradska, 1987