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Im Kriegsgebiet | Tagebücher aus der Ukraine

Von Olia Fedorova, Karina Beigelzimer, Zhenya Laptii und Christian Wehrschütz

Olia Fedorova

Heuer war es bereits der dritte 24. Februar, der nicht bloß ein weiterer Tag des ausklingenden Winters ist. Seit drei Jahren hat dieses Datum einen bitteren Beigeschmack für alle Ukrainerinnen und Ukrainer. Es ist der dritte Jahrestag der russischen Invasion, und der Krieg dauert eigentlich nun schon mehr als zehn Jahre. Das heißt, dass dieser Krieg bisher genau ein Drittel meines Lebens in Anspruch genommen hat. Und Kinder vieler meiner Freunde haben überhaupt noch nie ohne Krieg gelebt.

Heuer fühlten sich die Tage vor dem 24. Februar fast so beängstigend an wie im Jahr 2022. Damals war mein Gefühlsleben von Angst und Unruhe beherrscht. Die wichtigste Aktivität des Tages war das endlose Scrollen durch die Nachrichten. Ich war eingebettet in ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit, denn augenscheinlich konnte weder ich noch sonst jemand verhindern, was passieren würde. Die einzige Möglichkeit, die Kontrolle über mein Leben wiederzuerlangen sah ich darin, eine Entscheidung zu treffen – zu bleiben oder wegzulaufen – bevor es zu spät war. Zugleich würde das Fällen dieser Entscheidung aber bedeuten, die Hoffnung auf das Beste aufzugeben und das Schlimmste zu akzeptieren.

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    Dieser Tage, im Licht (ich sollte vielleicht besser sagen im Schatten) möglicher „Friedensverhandlungen“, ertappe ich mich dabei, dass ich fast die gleichen Gefühle entwickle. In ähnlicher Weise lese ich die Nachrichten und überlege immer wieder: Wird die Welt der Ukraine einfach den Rücken kehren und uns im Kampf allein lassen? Wird man aus Furcht vor einer „Eskalation“ den Aggressor machen lassen, was er will? Und auf mich zurückzukommen, wird meine Stadt besetzt werden? Wird mein Haus zerstört werden? Was soll ich jetzt tun, um etwas zur Sicherheit meiner Familie beizutragen?

    Es ist schrecklich, dass mir jetzt, im Jahr 2025, dieselben Fragen in den Sinn kommen. Der einzige Unterschied ist, dass vor drei Jahren noch niemand erkannt hat, wozu Russland in Bezug auf Gewalt, Gräueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fähig ist. Aber nach Butscha, Mariupol, Isjum wissen wir, was alles auf dem Spiel steht und was den Rest unserer Städte, Dörfer und Gemeinden erwartet, falls die Ukraine fällt. Das macht die ganze Sache noch beängstigender.

    Ruinen eines Supermarkts im Charkiwer Viertel Saltiwka. Foto: Getty Images/Carl Court

    Ein weiterer Unterschied ist, dass ich an diesem 24. Februar weit weg bin von der Ukraine und damit weit weg von der unmittelbaren Gefahr – aber es kommt mir so vor, als ob ich viel betroffener bin und mir mehr Sorgen mache als meine Mutter, die in Charkiw ist. Andere ukrainische Mitbürger, die das Land nicht verlassen haben, wirken eher wütend als ängstlich, sind erschöpft aber entschlossen, wenngleich ihr Leben in jedem Augenblick bedroht ist.

    Ich erinnere mich, dass ich mich vor drei Jahren ähnlich gefühlt habe, in einem Kellerschutzraum einer belagerten Stadt, viel mutiger und stärker als heute. Vielleicht haben mich die Sicherheit und das friedliche Leben hier in Graz schrecklich verwöhnt. Dabei möchte ich natürlich keinesfalls, dass alles egal wie und um jeden Preis vorbei ist. Wie jede Ukrainerin und jeder Ukrainer will ich nicht nur Frieden, sondern Gerechtigkeit. Jeder Verbrecher soll benannt und bestraft werden, jedes Verbrechen verfolgt und geahndet, und schließlich soll ein wirkungsvolles Sicherheitssystem aufgebaut werden.

    Ich will, dass dieser Krieg so endet, dass es fortan keine Angriffe auf mein Land gibt. Aber gleichzeitig ist da das Bewusstsein, dass meine Mutter, meine Großeltern und meine Freunde immer noch in Gefahr sind, da ist die Angst, die ich jedes Mal empfinde, wenn ich eine weitere Nachricht über Angriffe auf Charkiw lese, und da ist Frustration, gemischt mit Schuldgefühlen: Ich bin hilflos, ich kann nichts tun, ich kann nicht einmal das Leid mit meinen eigenen Leuten in der Ukraine teilen! Das alles bringt mich der Verzweiflung nahe. Und jeder Tag mit weiteren Nachrichten über die Gespräche der USA mit Russland, die hinter dem Rücken der Ukraine stattfinden, spüre ich, wie diese Verzweiflung immer schneller von meinem Geist und meiner Seele Besitz ergreift.

    Die „Allee des Ruhms“ auf einem Friedhof in Charkiw mit Gräbern gefallener ukrainischer Soldaten. Foto: Imago/Titov Yevhen

    Was mir hilft zu widerstehen, sind meine Freunde und Verbündeten hier in Graz, und natürlich die Kunst. Und meine Mutter in Charkiw, die ein wunderbares Beispiel für Widerstandskraft, Mut und wahre Frauenpower ist. Und alle Menschen, Ukrainer und Unterstützer im Ausland, von denen ich weiß, dass sie nicht gut finden würden, einfach aufzugeben. Ich glaube an die Menschen, und ich glaube, dass am Ende tüchtige, mitfühlende und furchtlose Menschen die Oberhand über die Scheinheiligen und die zynischen „Geschäftemacher“ haben werden. Zumindest möchte ich glauben, dass es so sein wird.

    P.S. Am 20. Dezember 2024 erlag der Soldat Mykhailo Danyliuk, an den sich die Leserinnen und Leser der Kleinen Zeitung vielleicht noch durch meinen Brief anlässlich seiner Hochzeit erinnern, seinen schweren Verletzungen, die er im Kampf gegen die Russen an der ostukrainischen Front erlitten hatte. Zu Beginn der großen Invasion kam er aus Polen, wo er arbeitete, und meldete sich freiwillig bei der Armee, um seine Familie, sein Heimatdorf in der Region Charkiw und sein Land zu verteidigen. Mykhailo heiratete im April 2022 Svitlana und wurde später Vater eines kleinen Sohnes. In den vergangenen Jahren sahen sie sich nur kurz, wenn er frei bekam, aber trotzdem und trotz des Krieges waren sie glücklich. Um sein Andenken zu ehren, haben die Dorfbewohner ein Banner mit seinem Porträt an einer der Straßen aufgehängt. Es gibt viele solcher Banner in der Gegend. Viel zu viele für eine so kleine Siedlung.

    P.P.S In diesem Winter gab es in Charkiw fast keine Stromausfälle. Rund um Silvester leuchtete der festliche Lichtschmuck auf den Straßen mehrere Nächte hindurch ununterbrochen.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Am 24. Februar 2022 änderte sich das Leben von Millionen Ukrainern für immer. Die russische Großinvasion markierte einen weiteren, brutaleren Abschnitt eines Krieges, der bereits 2014 mit der Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbas begonnen hatte. Viele dachten damals, die Ukraine würde dem Ansturm nicht lange standhalten. Doch heute, fast 1.100 Tage später, kämpft das Land weiter – mit unglaublichem Mut, tiefem Leid und unerschütterlicher Hoffnung.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. In den frühen Morgenstunden wurden wir von Explosionen geweckt, der Krieg hatte unser Leben abrupt in ein Vorher und ein Nachher geteilt. In den Straßen herrschte Chaos – manche packten hastig ihre Koffer und flohen, andere versammelten sich in Schlangen vor Banken und Supermärkten. Während sich die Welt erst langsam der Tragweite dieses Angriffs bewusst wurde, verbrachte ich diesen Tag damit, Interviews zu geben, in der Hoffnung, dass internationale Aufmerksamkeit helfen könnte, die Katastrophe zu stoppen.

Doch der Krieg endete nicht nach ein paar Tagen, wie viele in Russland behauptet hatten. Er verwandelte unser Leben in einen ständigen Kampf – nicht nur an der Front, sondern auch in den Städten und Dörfern, in den Kellern und Schutzräumen, in unseren Herzen und Gedanken.

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    In den ersten Kriegswochen verließen viele meiner Freunde das Land. Zurück blieb eine bedrückende Leere. Doch für Lähmung war keine Zeit. Wie Tausende andere wollte ich nützlich sein – helfen, wo es nur ging. Die Menschen organisierten sich, brachten Hilfsgüter an die Front, verteidigten ihre Städte oder halfen Geflüchteten.

    Vor Kurzem sprach ich mit meiner Kollegin Svitlana Nahorna, die sagte: „Ich konnte damals nicht gehen. Ich hätte es nicht ertragen, all das nur aus der Ferne zu beobachten.“ Und sie sprach aus, was viele fühlen: Die Verbundenheit mit unserem Land ist oft stärker als die Angst.

    Heute, wenn ich Menschen nach ihren Wünschen frage, höre ich immer wieder die gleichen Antworten: Frieden, Sieg, die Möglichkeit, ihre Liebsten wiederzusehen. Der Krieg hat unzählige Familien auseinandergerissen. Mein Bekannter Oleh Kusnetsov erzählte mir gestern, dass er davon träumt, seine Eltern wiederzusehen, die unter russischer Besatzung leben, und seine zwei Kinder in die Arme zu schließen, die an der Front kämpfen. Und sein neunjähriger Sohn? Sein größter Wunsch ist, eine Kindheit ohne Krieg zu erleben.

    Eine Frau steht neben einem Raketenkrater in Kiew, Februar 2025. Foto: AFP/Tetiana Dzhafarova

    Die Wunden, die dieser Krieg hinterlässt, sind tief. Lange konnte ich meiner Bekannten nicht in die Augen sehen – sie hatte ihren Sohn an der Front verloren. Ihr Schmerz war so groß, dass man ihn beinahe physisch spüren konnte. Doch vor ein paar Monaten adoptierten sie und ihr Mann ein kleines Mädchen. Natürlich ersetzt es ihren Sohn nicht, aber es ist ein Akt der Liebe – ein Weg, weiterzumachen. Die Psychologin Natalia Kucherava betont: Der Schmerz bleibt, aber die Möglichkeit, einem Kind ein Zuhause zu geben, bringt Heilung und neuen Sinn. Indem sie sich um ein anderes Kind kümmern, kanalisieren diese Paare ihre Liebe und Fürsorge, die sie nicht mehr an ihre eigenen Kinder geben können, auf eine Weise, die gleichzeitig Trost und Erfüllung bringt.

    Ähnliche Geschichten gibt es viele. Eine Freundin, die als Lehrerin arbeitet, erzählte mir von einem Schüler, dessen Vater in den ersten Kriegstagen gefallen ist. Die Mutter verfiel in tiefe eine Depression, das Kind hörte auf zu sprechen. Doch mit der Zeit, durch die Unterstützung von Lehrern, Psychologen und Freiwilligen, begann der Junge sich langsam wieder zu öffnen. Heute hilft er selbst als Freiwilliger, Pakete für die Soldaten an der Front zu packen. In seinen Augen liegt eine Ernsthaftigkeit, die kein Kind haben sollte.

    Während die meisten Kämpfer an der Front Männer sind, spielen Frauen eine entscheidende Rolle in diesem Krieg – sowohl an der Front als auch in der Gesellschaft. Mehr als 60.000 Frauen dienen in der ukrainischen Armee, etwa 5000 von ihnen direkt an der Frontlinie. Sie sind Sanitäterinnen, Scharfschützinnen, Drohnenoperatorinnen oder Kommandantinnen von Einheiten. Doch auch im zivilen Leben halten Frauen das Land am Laufen. Sie unterrichten unter schwierigsten Bedingungen, versorgen Verwundete, organisieren Spendenaktionen und kümmern sich um die Millionen von Binnenvertriebenen, die in sicherere Regionen geflohen sind. Ich denke an meine Freundin Viktoriya, die einst als PR-Managerin arbeitete und heute eine Hilfsorganisation leitet. Sie hat in den letzten drei Jahren Tausende Tonnen Hilfsgüter an die Front geschickt, Schlafsäcke, Medikamente, Drohnen und sogar selbstgebaute Tarnnetze für die Soldaten organisiert.

    Ukrainische Haubitzen-Kommandeurin an der Front in der Region Saporischschja. Foto: AP/Ukraine's 65th Mechanised Brigade/Andriy Andriyenko

    Der Krieg dauert nun schon drei Jahre. Das bedeutet fast 1.100 Nächte unter Beschuss, 1.100 Tage voller Verluste, Angst und Entbehrungen. Die Müdigkeit ist überall spürbar, doch noch immer geben die Menschen nicht auf.

    Ich erinnere mich an einen alten Mann in Cherson, der in den ersten Tagen nach der Befreiung seiner Stadt interviewt wurde. Auf die Frage, warum er nicht geflohen sei, antwortete er: „Dies ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren, ich werde hier sterben. Und wenn es sein muss, kämpfe ich mit bloßen Händen.“

    Solche Geschichten gibt es überall in der Ukraine. Menschen, die in kalten Kellern ausharren, ohne Strom, ohne Wasser, aber mit ungebrochener Willenskraft. Menschen, die trotz allem lachen, tanzen, singen, weiterleben – weil sie sich nicht nehmen lassen wollen, was sie menschlich macht.

    Seit drei Jahren vergeht kaum eine Nacht, in der wir nicht von Sirenen geweckt werden. Die Geräusche von Drohnen, Raketen und Explosionen sind Teil unseres Alltags geworden. Viele Orte in der Ukraine sind Narben des Krieges – zerstörte Häuser, zerbombte Schulen, verwüstete Straßen. Doch noch mehr als die Ruinen sind es die Menschen, die dieser Krieg gezeichnet hat, die ihn überleben, die mich beeindrucken.

    Zerstörte Büroräumlichkeiten in Kiew nach einem russischen Raketenangriff im Spetember 2024. Foto: AFP/Sergei Chuzavkov

    Trotz allem gibt es Hoffnung. Hoffnung, weil es überall auf der Welt Menschen gibt, die uns unterstützen – Regierungen, die Waffen und humanitäre Hilfe schicken, aber auch Einzelpersonen, die mit ihren Möglichkeiten helfen. Menschen, die ihre letzten Ersparnisse spenden. Freiwillige, die sich in Lebensgefahr begeben, um Hilfsgüter zu den Bedürftigen zu bringen. Journalisten und Aktivisten, die verhindern, dass die Ukraine in Vergessenheit gerät.

    Drei Jahre Krieg – das bedeutet unermessliches Leid, aber auch ungebrochene Entschlossenheit. Wir haben gelernt, mit der Angst zu leben. Aber wir haben auch gelernt, was es bedeutet, für die Freiheit zu kämpfen. Und wir wissen eines genau: Wir werden diesen Kampf für unsere Freiheit niemals aufgeben.

    Aber gerade gibt es eine neue Bedrohung für uns, eine noch größere Angst. Nicht eine Angst, die wir schon kennen, vor Putin und seinen Truppen, seinen Raketen und Drohnen. Es ist die Angst, dass unser Schicksal über unsere Köpfe hinweg entschieden wird – für fremde Interessen. Eine Angst, dass alle unsere Kämpfe, alle unsere Opfer umsonst gewesen sein könnten. Dass Andere ohne uns diesen Krieg beenden wollen, nach ihren Vorstellungen von Frieden, Sicherheit und Profit, den sie daraus schlagen können. Ohne an uns, die Ukrainer und Ukrainerinnen zu denken, die in Zukunft in Frieden und Sicherheit leben wollen.

    Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben, dass unsere europäischen Freunde für uns und die Ukraine kämpfen werden, gegen diese neue, ganz andere und unerwartete Bedrohung, mit Diplomatie und großem Engagement, so wie sie es bislang mit ihrer Waffenhilfe getan haben. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, in einem freien und sicheren Europa zu leben.

Zhenya Laptii

Cherson war die erste große Stadt, die 2022 von den Russen besetzt wurde. Es ist dies eine Stadt, die nach der Sprengung des Staudamms von Kachowka im Juni 2023 katastrophale Schäden erlitt; eine Stadt, die weiterhin von russischen Truppen beschossen und wahrscheinlich erneut besetzt werden wird.

Nachdem die Russen den Staudamm gesprengt hatten und Cherson überflutet wurde, beschloss ich, nach Hause zurückzukehren. Ich hatte fast eineinhalb Jahre in Österreich gelebt, aber die Ereignisse in meiner Heimat ließen mir keine Ruhe. Das vorerst letzte Glied in dieser Kette des Grauens war der terroristische Akt der Sprengung des Staudamms durch die Russen.

Es war damals davon auszugehen, dass die Welt reagieren und die Russen für eine der größten von Menschen verursachten Katastrophen unserer Zeit zur Verantwortung ziehen würde. Der russisch-ukrainische Krieg ist jedoch bloß ein weiterer Krieg in der endlosen Liste all jener Kriege, die derzeit in der Welt geführt werden, und wir, die Menschen in der Ukraine, sind weit davon entfernt, prioritär behandelt zu werden.

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    Das Ausmaß der Katastrophe war erschütternd: Der Stausee von Kachowka, beinahe ein kleines Meer, lief vollständig ins Schwarze Meer aus, und das einst größte Wasserreservoir der Ukraine verwandelte sich in eine Wüste. Wir alle hatten gedacht, dass dieser See zu einer Wüste werden würde, aber die Natur erwies sich als viel klüger als die Menschen. Bereits im ersten Jahr war fast das gesamte Gebiet des Stausees mit jungen Weidentrieben übersät. Biologen sagen, dies sei geschehen, weil der Damm während der Blütezeit gesprengt wurde. Der schlammige Boden bildete somit einen idealen Grund für die Entstehung des größten Weidenwaldes in Europa und möglicherweise auf der ganzen Welt.

    Ich träumte davon, dieses Naturwunder zu sehen. Zwei Jahre lang hatte ich gehofft, in die Region Cherson reisen und dieses außergewöhnliche Beispiel für die Weisheit der Natur mit eigenen Augen sehen zu können. Als sich mir die Möglichkeit bot, dorthin zu fahren, sagte ich ohne zu zögern zu.

    Ein Soldat holte uns am Bahnhof ab und wir stiegen in ein Auto. Die Windschutzscheibe war geborsten.

    „Es war eine FPV-Drohne“, sagte der Soldat fröhlich und auf die kaputte Scheibe zeigend, „dieses Baby ist schon so viele Male vor Drohnen geflohen, aber es ist immer noch stark.“

    Wir fuhren in die Region Cherson, in das Dorf Osokoriwka, das einst am Ufer des riesigen Stausees lag und jetzt an die Frontlinie grenzt.

    Es war nur tagsüber möglich, in das Dorf zu gelangen, denn in der Nacht konnte das russische Militär die Autos anhand ihrer Scheinwerfer erkennen. Wenn man in die Region Cherson kommt, sticht einem als Erstes der ausgedehnte rötliche Wald ins Auge.

    Die dort häufig kultivierte Wassermelone ist ein Symbol der Region Cherson. Die Autorin steht vor einer Wassermelonen-Statue in der Nähe von Osokoriwka. Foto: Privat

    „Hier war einst das Meer von Kachowka. Früher gab es hier Wasser, und heute ist es ein Weidenhain. Er schlängelt sich bis zum Horizont. Im Sommer ist er leuchtend grün, aber jetzt sind die Blätter abgefallen und nur noch rote Stämme übrig“, erklärt uns unser Reisebegleiter.

    Wir reisten zu Weihnachten nach Cherson, und alle waren auf der Hut. Am 24. Dezember hatte Russland die Ukraine massiv beschossen, und es gab Gerüchte, dass Russland eine Gegenoffensive in der Region Cherson starten würde.

    Bei unserem ersten Halt wurden wir von Soldaten der Luftabwehr begrüßt, die unseren Himmel schützen. Kräftige Männer, allesamt Freiwillige aus der Zentralukraine.

    „Wir haben Sie schon erwartet und etwas zur Stärkung für Sie vorbereitet“, sagten sie.

    Dieses Angebot konnten wir nicht ablehnen, und da wir nach der langen Reise ohnehin hungrig waren, begaben wir uns zu Tisch.

    Wir sprachen über das zivile Leben, und die Soldaten berichteten uns aus ihrem Alltag. Für einen Augenblick herrschte der Anschein eines normalen Lebens vor, ganz so, als ob wir alle am Weihnachtstisch säßen und es keinen Krieg gäbe.

    Olena, eine Astrophysikerin, mit der wir an einem Kunstprojekt in der Region Cherson arbeiteten, inspizierte die Erste-Hilfe-Kästen. Sie ist auch für eine NGO tätig, die medizinische Güter und andere notwendige Ausrüstungsgegenstände für das Militär kauft.

    Ich unterhielt mich mit den Soldaten. Sie erzählten mir von ihren Familien, ihren Kindern und den vielen Leben, die sie hier – Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt – schützten. Eigentlich sollten sie daheim bei ihren Kindern und Ehefrauen sein und an einem festlich gedeckten Tisch sitzen. Aber stattdessen ist es ihre Aufgabe, den Himmel über der Region Cherson zu sichern.

    Die Autorin trifft Soldaten in der Region Cherson. Foto: Privat

    Es war Zeit, uns zu verabschieden, denn die Jungs hatten eine nächtliche Ausfahrt zu den Stellungen zu unternehmen, um von dort aus feindliche Shahed-Drohnen zu zerstören.

    Wir fuhren in das Dorf Osokoriwka, wo Olenas Großmutter lebt, was unser letztes Ziel war.

    Das Dorf liegt versteckt in einer Bucht des ehemaligen Staudamms, was auch der Grund war, dass es die russische Artillerie nicht erreichen konnte, sodass es dort relativ sicher war.

    Die graublauen Häuser liegen zwischen Hügeln versteckt. Darunter, wo sich früher der See befand, wachsen nun Weiden.

    Als wir am Abend bei Olenas Großmutter ankamen, wurden wir durch das Bellen eines Hundes und die Freudenrufe der Großmutter begrüßt, die glücklich war, dass ihre Enkelin endlich in die Arne schließen konnte.

    Nach langen Gesprächen und köstlichen Speisen konnten wir endlich nach draußen gehen und einen Spaziergang durch das Dorf machen. Es war so dunkel, dass man meinen könnte, man befinde sich im Tiefschlaf, aber die Dunkelheit war damit zu erklären, dass wegen der Nähe zur Front alle Lichter ausgeschaltet waren. Die Menschen hatten alle Fenster ihrer Häuser mit Vorhängen versehen, sodass man das Licht von der Straße aus nicht sehen konnte, denn nachts fliegen Drohnen, die von Lichtquellen angezogen werden.

    Wir gingen also in völliger Dunkelheit, während der beißende Dezemberwind sein unheimliches Lied sang, das an das Heulen eines Tieres in der Steppe erinnerte. Schließlich gewöhnten sich unsere Augen an die Dunkelheit, und Umrisse einzelner Objekte begannen sich in der Finsternis abzuzeichnen.

    Auf einmal erschien am Horizont ein Licht, das einem Strahl gleich emporstrebte und begann – ähnlich dem Auge Saurons – in der Dunkelheit nach etwas zu suchen. Wahrscheinlich schoss unsere Luftabwehr Drohnen ab. Wir erstarrten und blickten gebannt auf den Horizont, wo eine Luftschlacht stattfand, ehe der Strahl verschwand und wieder pechschwarze Finsternis herrschte.

    Wir mussten nach Hause zurück … wer weiß, was da von oben herab auf uns heruntergeblickt hatte …

    Der Grund des ausgetrockneten Stausees von Kachowka, der ob seiner Ausdehnung auch als „Meer“ bezeichnet wurde. Foto: Privat

    Der Morgen war bewölkt, aber wir wollten unser Projekt durchführen, weshalb wir uns an das Ufer des ehemaligen Meeres von Kachowka begaben. Der Wind wehte die jungen Weiden hin und her, wobei sie Schaumkronen auf Meereswellen glichen. Zwischen den roten Weidenhügeln tauchten schneeweiße Inseln aus Muschelgestein auf, die einst den Grund des Stausees bedeckt hatten.

    Jetzt können die Russen einfach am Meeresgrund entlanggehen, und schon sind sie auf unserer Seite, und das Einzige, was uns noch schützt, ist dieser junge Wald, der jedoch niedergebrannt und abgeholzt werden kann.

    Wir blickten auf das linke Ufer, wo der Tod lauert.

    Ein grauer, düsterer Himmel senkte sich auf die roten Weiden herab; irgendwo flatterte ein Vogel, irgendwo rannte ein junges Wildschwein umher … das alles hier ist nun ein Lebensraum für Tiere, die sich hier angesiedelt haben. Jetzt regiert hier die Natur, und die Tierpopulation wächst rasant, während die Menschen langsam dieses Gebiet verlassen.

    Das Dorf stirbt aus, nur das leise Rauschen der Weiden bleibt zurück.

    Übersetzung: Arno Wonisch

Zhenya Laptii

Lassen Sie mich mit einer banalen Phrase beginnen: „Alles, was es braucht, damit das Böse triumphiert, ist die Untätigkeit des Guten.“

Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist das Ausmaß der Katastrophe mit streunenden Tieren erschreckend: Hunderttausende von Tieren, die im Kriegsgebiet zurückgelassen wurden, sind dem Hungertod geweiht. Wenn Menschen evakuiert werden, können sie ihre Haustiere meist nicht mitnehmen, geschweige denn ihr Nutzvieh. Die Tierheime sind überfüllt, und leider bieten nicht alle von ihnen akzeptable Lebensbedingungen. Wir haben es mit menschlicher Grausamkeit, Gleichgültigkeit und dem Wunsch zu tun, aus den Schwächsten – den Tieren, die sich nicht wehren können – Profit zu schlagen.

Probleme mit streunenden Tieren in der Ukraine gab es schon vor dem Ausbruch des vollumfänglichen Krieges. Leider gibt es kein gesetzlich geregeltes System, das die Arbeit der Tierheime überwachen oder sie zumindest von staatlicher Seite unterstützen würde. Die Tierheime werden von fürsorglichen Menschen auf privater Basis betrieben. Die Gesetzgebung zum Schutz der Rechte von Tieren verliert in der Realität des Krieges ihre Wirksamkeit und – um ehrlich zu sein – verfügen wir in diesem Bereich ohnehin nicht über qualitativ hochwertige Rechtsinstrumentarien.

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    Nehmen wir zum Beispiel das Problem der privaten Zwingerhaltung von Rassehunden, derer es in der Ukraine viele gibt. Die Zucht teurer, sich gerade in Mode befindender Zierrassen ist ein überaus profitables Geschäft. Die Hunde werden oft ins Ausland verbracht und hierbei insbesondere ins westliche Europa, wo die Preise für diese Rassen viel höher sind als bei uns. Dieses Geschäft ist zutiefst unmoralisch und unmenschlich.

    Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die mir während meines Aufenthalts im russisch besetzten Gebiet widerfahren ist: Es war wahrscheinlich in der zweiten Woche der Besatzung. Wir wussten, dass es in unserem Dorf einen Zwinger für teure Hunderassen gab, aber wir hatten keine Ahnung, wie schrecklich die Bedingungen in diesem waren. Wir erhielten einen Anruf von der Inhaberin des Zwingers, die das besetzte Gebiet bereits in den ersten Stunden verlassen hatte. Später rief sie einige ihrer Nachbarn an und bat diese, nach ihren Hunden zu sehen. Alle fragten sie: „Hast du die Hunde wirklich zurückgelassen?“

    Ich möchte Sie daran erinnern, dass es die zweite Woche unter russischer Besatzung war. Als die Nachbarn die Tür zum Haus öffneten, bot sich ihnen ein schreckliches Bild: Die Hunde waren kaum noch am Leben, in Käfigen eingesperrt, einige waren bereits gestorben, und ihre Kadaver wurden von den Überlebenden gefressen. Sie hatte weder Futter noch Wasser zurückgelassen. Es waren Rassehunde, die in der Regel für 3.000 Dollar verkauft werden. Sie waren am Verhungern, und diese Frau hatte nichts unternommen, um sie vor ihrem sicheren Tod zu bewahren. Leider gibt es viele solcher Fälle.

    Es gibt jedoch auch eine andere Seite der Medaille: Viele Menschen, darunter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder einfach nur engagierte Bürger, setzen sich dafür ein, die Gleichgültigkeit und Grausamkeit zu überwinden, indem sie Tiere aus verschiedenen Teilen der Ukraine retten und dabei ihre eigene Gesundheit und ihr Leben riskieren.

    In der heutigen Geschichte geht es um eine Person, die Tiere an der Frontnähe und in den besetzten Gebieten rettet, die ihrem Schicksal und ihrem sicheren Tod überlassen wurden.

    Oksana Musina betreibt ein Tierheim nahe Charkiw und kümmert sich dort um mehr als 150 Tiere. Foto: Privat

    Diese Geschichte handelt von Oksana Musina, die ein Tierheim betreibt und sich um mehr als 150 Tiere kümmert.

    An einem frostigen Dezembertag traf ich mich mit Oksana und wir fuhren gemeinsam zum 20 Minuten von Charkiw entfernten Tierheim. Da es keine regelmäßigen öffentlichen Verkehrsverbindungen gibt, beschloss Oksana, mich in Charkiw abzuholen.

    Stille ländliche Winterlandschaften, eine schneebedeckte Straße und mit silbernem Raureif bedeckte Bäume. Nichts schien mich an den Krieg zu erinnern, und es kam mir vor, als würde ich in meine Heimat auf dem Dorf zurückkehren und in eine Zeit eintauchen, in der wir dieses Leid noch nicht kannten.

    Das Auto hielt am Straßenrand in der Nähe eines kleinen Hauses am Ende des Dorfes. Die Straße führte einen kleinen Hügel hinauf und verlor sich in den Baumkronen. Oksana und ich näherten uns dem Haus mit einem Sack voll Futter.

    Auf der Türschwelle kamen uns Katzen entgegen. Es waren viele, und alle begrüßten uns fröhlich, miauten, wedelten mit dem Schwanz und warteten auf Futter. Eine der Katzen war grau, eine andere weiß, eine sehr flauschig und eine weitere luchsartig gestreift. Dieses Katzenreich brachte meine Augen zum Strahlen, und ich wollte sie alle auf einmal streicheln und in die Arme nehmen.

    Ich sah das kleinste Kätzchen, das wie mein Kater Anton aussah. Es kletterte mir in den Nacken und begann zu schnurren – genau so, wie es Anton immer tut.

    Oksana sah nach dem Rechten und berichtete mir über das Tierheim.

    „Tee oder Kaffee?“, fragte sie mich.

    „Kaffee“, antwortete ich.

    Während der duftende Kaffee auf dem Herd köchelte, erzählte mir Oksana von ihrem Leben und darüber, wie ihr die Idee zur Errichtung des Tierheims gekommen war.

    „Ich komme aus Makijiwka (im Gebiet Donezk). Als dort 2014 alles anfing, beschlossen wir, nach Charkiw zu ziehen, weil meine Kinder hier studierten. Ich kaufte ein altes Haus und begann nach und nach, alles in Ordnung zu bringen.“

    Oksana stellte Kaffee auf den Tisch, und wir begannen uns eingehend über das Tierheim zu unterhalten. Die Katzen umringten uns und schnurrten, als würden sie uns hypnotisieren wollen.

    Einige der Katzen im Tierheim von Oksana Musina. Foto: Privat

    „Erzählen Sie bitte, wie sich die Situation seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verändert hat. Wie hat sich das auf das Tierheim ausgewirkt?“

    „Die Lage hat sich dramatisch verändert. Im Jahr 2022 beherbergte das Heim 52 Tiere. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Tiere, die an Bahnhöfen wie etwa in Zmijiw und Osnowa zurückgelassen wurden. Viele habe ich auch am Zentralmarkt eingesammelt. Nach 2022 verschlechterte sich die Situation dramatisch, und die Zahl der Tiere stieg um ein Vielfaches an. Heute leben im Tierheim mehr als 150 Katzen und über 20 Hunde. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Tiere aus dem Kriegsgebiet und aus besetzten Regionen wie Wowtschansk, Kupjansk und aus dem Gebiet Donezk. Im März 2022 wurden die meisten Tiere am Südbahnhof in Charkiw aufgegriffen. Viele wurden auch in Nordsaltiwka gefunden. Die Menschen hatten unter Beschuss fluchtartig ihre Häuser verlassen und ihre Tiere nicht mitgenommen. Ich habe auch elf Tiere aus dem Tierheim in Nordsaltiwka evakuiert.“

    „Sie haben jetzt mehr als 150 Tiere. Finden Sie Abnehmer für sie? Wie sieht ihr künftiges Schicksal aus?“

    „Fast alle bleiben im Tierheim, weil sich nur wenige Abnehmer finden. Die meisten Menschen verlassen Charkiw. Wenn jemand ein Tier mitnimmt, dann sind es meistens Katzen. Hunde bleiben leider zurück.“

    „Was sind die größten Herausforderungen, denen Sie bei Ihrer Arbeit begegnen?“

    „Zunächst einmal geht es um Futter und ärztliche Behandlung; das sind die beiden Hauptbereiche, in die das meiste Geld fließt. Letzten Monat zum Beispiel habe ich 138.000 Griwna allein für Behandlungen ausgegeben.“

    Oksana stand auf und rief mich in den anderen Raum.

    „Ich werde Ihnen zeigen, welch großen Bestand an Veterinärmedizin ich zu Hause habe.“

    Sie holte drei große Plastikbehälter mit Medikamenten hervor.

    „Hier, sehen Sie. Weitere Medikamente lagere ich in einem Kühlschrank.“

    „Wie schaffen Sie es, das alles instand zu halten? Wer hilft Ihnen dabei? Der Staat oder die Gemeinde?“

    „Hm, leider weder der Staat noch die Gemeinde. Nur Freiwilligenorganisationen und Einzelpersonen, die mich persönlich kennen. Ich mache fast alles selbst.“

    Ein Blick in den Kühlschrank mit Medikamenten. Foto: Privat

    Oksana führt mich zum Kühlschrank und zeigt mir die Medikamente, die in diesem gelagert sind.

    Im Stillen frage ich mich, wie viel an Kraft und Mut es bedarf, um diese gute Arbeit fortzuführen und um weiterzumachen, wenn man sieht, wie schlecht Tiere tagtäglich von Menschen behandelt werden.

    „Was motiviert Sie, diese gigantische Arbeit fortzusetzen?“

    „Das Schlimmste ist, wenn man kein Zuhause hat“.

    Diese Worte haben mich tief beeindruckt, weil ich weiß, wie sich das anfühlt.

    „Es ist das zweite Mal, dass ich persönlich vom Krieg betroffen bin. Während Menschen Hilfe erhalten, Arbeit finden und ihr Zuhause wieder aufbauen können, können Tiere das nicht. Sie sind dem Untergang geweiht.“

    „Gibt es Ihrer Meinung nach Möglichkeiten, das Problem der streunenden Tiere in der Ukraine zu lösen?“

    „Zunächst einmal müssen wir vom Kindesalter an eine humane Einstellung gegenüber Tieren fördern. Wir brauchen auch staatliche Programme zur Unterstützung von Tierheimen und zur Sterilisation von Tieren. Aber das Wichtigste ist die Verantwortung von uns Menschen.“

    „Wie sehen Sie die Zukunft des Tierheims?“

    „Wir möchten überleben. Das ist bei einem Blick auf die Kriegsgeschehnisse und den Frontverlauf das Allerwichtigste. Natürlich würden wir gerne eine weitere Unterkunft für die Tiere bauen, da der bisherige Platz nicht ausreicht, und wir würden auch gerne den Bereich für die Hunde erweitern, da nicht alle von ihnen separate Gehege haben. Aber das sind Pläne für die ferne Zukunft, denn die Situation an der Front ist sehr instabil und fragil. Wie auch immer, ich möchte mich bei allen bedanken, die mitgeholfen haben und mithelfen, denn ohne Ihre Unterstützung hätte ich das alles nicht geschafft!“

    Der Kaffee ist ausgetrunken, und wir fangen langsam an, uns fertig zu machen. Die Katzen sitzen weiterhin friedlich auf ihren Plätzen und schnurren.

    Es wird dunkel, und es ist Zeit, nach Charkiw zurückzufahren; es regnet und schneit, und Krähen fliegen über den bleiernen Himmel. Das Einzige, was fehlt und woran wir uns gewöhnt haben, ist das schrille Heulen einer Sirene, aber zum Glück ist es ruhig. So ruhig wie es in Charkiw schon lange Zeit nicht mehr war.

    Übersetzung: Arno Wonisch

    Oksana Musina würde sich über Spenden für ihr privates Tierheim freuen:

    Bankverbindung
    Empfänger: MUSINA Oksana
    IBAN: UA403052990000026205889031270
    BIC: PBANUA2X
    Bank: JSC CB Privatbank

    Paypal: musinasana@gmail.com

Karina Beigelzimer

Draußen ist es trübe, drinnen bleibt es dunkel. Die Stromausfälle dauern an, und ich habe Zeit, nachzudenken. Die letzten Wochen waren schwer für unsere Stadt. Blackouts, kein Wasser, manchmal keine Heizung. Doch das war nicht das Schlimmste. Schwerwiegender waren die Drohnen- und Raketenangriffe, die viele Menschenleben forderten. An einigen Tagen wehten sogar Fahnen mit schwarzen Schleifen als Zeichen der Trauer. Der Schmerz war allgegenwärtig und greifbar.

Zusätzlich kamen die erschütternden Nachrichten aus Sumy, Dnipro, Charkiw und von der Front. Sie raubten uns die letzten Funken Lebensfreude. Meine Mutter sagte kürzlich, sie habe große Angst und wir müssten etwas unternehmen. Als ich sie fragte, ob sie in eine andere Stadt oder ins Ausland ziehen wolle, lehnte sie ab. Eine bessere Lösung konnte ich ihr nicht anbieten.

An Tagen mit Daueralarmsirenen, Explosionen und Raketenangriffen fühle ich mich oft wie gelähmt, unfähig, richtig zu reagieren. Manchmal weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll, ohne zu verzweifeln. Trotzdem versuche ich, meine Aufgaben als Journalistin und Lehrerin so gut wie möglich zu erfüllen. Besonders meine Schülerinnen und Schüler in Odessa geben mir Kraft.

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    Ende November schrieben einige von ihnen den schriftlichen Teil der internationalen Prüfung für das Deutsche Sprachdiplom (DSD II). Das Thema der Erörterung war anspruchsvoll und es ging darum, ob politische Partizipation Jugendlicher durch digitale Beteiligungsangebote gefördert werden kann. Nach der Prüfung sprach ich mit einigen Schülern und war erstaunt über ihre Antworten. Viele berichteten, wie sie durch digitale Plattformen und Foren nicht nur Wissen erlangt, sondern auch aktiv am gesellschaftlichen Leben teilgenommen hatten – sei es durch die Organisation von Klimaaktionen, Spendensammlungen oder die Gründung eines Jugendvereins.

    „Diese digitalen Plattformen haben mir den Mut und die Werkzeuge gegeben, aktiv zu werden“, erzählte mir mein 17-jähriger Schüler Mykyta Voitiuk. Und er hat recht: Was die Digitalisierung betrifft, gehört die Ukraine zu den Spitzenreitern in Europa.

    Zivilisten werden aus Pokrowsk (Oblast Donezk) in umittelbarer Frontnähe evakuiert. Foto: Imago Images/Matthew Rodier

    Die schwierigen Zeiten haben den Innovationsgeist in der Ukraine nicht erstickt – im Gegenteil, sie haben ihn beflügelt. Beispiele wie Diia, die revolutionäre E-Government-App, zeigen, wie weit die Ukraine in der Digitalisierung bereits ist. Diese App ermöglicht es Bürgern, ihre wichtigsten Dokumente – vom Reisepass bis zur Geburtsurkunde – digital zu speichern und auf staatliche Dienstleistungen wie Steuererklärungen, Sozialleistungen oder Gewerbeanmeldungen direkt zuzugreifen. Besonders in Zeiten des Krieges ist Diia ein unverzichtbares Werkzeug geworden: Viele Menschen konnten online Ersatzdokumente beantragen oder Unterstützung für Kriegsopfer erhalten. Die App „Diia“ wird international hochgeschätzt: Laut dem Magazin „Time“ zählt sie zu den besten Erfindungen der Welt – in einer Liga mit Innovationen wie Zoom und GPT-4. Minister für digitale Transformation, Mykhailo Fedorov, betont, wie stolz die Ukraine auf diese Entwicklung ist.

    Seit September 2024 hat die Ukraine sogar das Heiraten ins digitale Zeitalter geholt. Mit wenigen Klicks können Paare über Diia online heiraten – eine wichtige Innovation in Kriegszeiten, in denen es oft unmöglich ist, eine standesamtliche Zeremonie vor Ort abzuhalten. Man kann nun direkt in Diia einen Heiratsantrag stellen – der Partner oder die Partnerin bekommt eine Benachrichtigung und hat 14 Tage Zeit zu antworten. Paare können in der App auch entscheiden, welchen Nachnamen sie führen möchten: den eigenen, den des Partners oder einen Doppelnamen. Am Tag der Hochzeit folgt das Paar einem Link zur Online-Zeremonie, bei der ein Mitarbeiter des digitalen Standesamts sie traut. Diese Zeremonie dauert etwa 30 Minuten und benötigt nur ein Smartphone und eine stabile Internetverbindung. Innerhalb eines Tages stellt Diia die digitale Heiratsurkunde aus. Wer eine gedruckte Urkunde haben möchte, kann sie per Post bestellen oder persönlich abholen. Die virtuelle Eheschließung wird rechtlich anerkannt, und viele Paare, insbesondere Soldaten, nutzen diese Möglichkeit, um sich trotz der Distanz das Ja-Wort zu geben.

    Die Ukraine ist damit weltweit das erste Land, das den gesamten Ablauf einer Eheschließung digitalisiert hat.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der Präsentation neuer Funktionen der E-Government-App im Dezember 2023. Foto: Imago Images/Bestimage/Ukraine Presidency

    Ein weiteres beeindruckendes Beispiel für die ukrainische Innovationskraft ist Monobank, die erste vollständig digitale Bank des Landes. Ohne Filialen, lange Warteschlangen oder Papierkram bietet Monobank eine beispiellose Nutzerfreundlichkeit. Kunden können innerhalb weniger Minuten ein Konto eröffnen, Kredite beantragen oder Geldtransfers durchführen – alles über eine App.

    Während des Krieges hat Monobank viele praktische Funktionen eingeführt, wie die Möglichkeit, gezielt an die Streitkräfte oder humanitäre Organisationen zu spenden.

    Außerdem ermöglicht sie schnelle Finanztransaktionen in einer Zeit, in der klassische Banken oft aufgrund von Stromausfällen oder Schäden nicht funktionieren können.

    Besonders beeindruckend ist, wie die Jugend in der Ukraine digitale Tools nutzt, um aktiv zu werden. Einige Schüler und Studenten haben während des Krieges Spendenaktionen über soziale Medien organisiert, um Medikamente, Kleidung und Lebensmittel für Binnenflüchtlinge bereitzustellen. Andere haben durch Crowdfunding-Plattformen Geld für Drohnen oder medizinische Geräte gesammelt.

    Ein Student erzählte mir stolz von seiner Teilnahme an einem Hackathon, bei dem junge Menschen Lösungen für humanitäre Probleme entwickelten. Sein Team programmierte eine App, die geflüchteten Familien half, sichere Unterkünfte in der Nähe zu finden.

    Die Digitalisierung ist für uns mehr als nur Technik – sie ist ein Mittel des Widerstands, der Zusammenarbeit und der Hoffnung
    Trotz der Herausforderungen wird mir immer wieder bewusst: Unsere Zukunft entsteht in der Gegenwart. Und sie wird digital sein.

Zhenya Laptii

Der Krieg, der nach den Prognosen aller Analysten nur drei Tage hätte dauern sollen, geht nun schon in seinen dritten Winter. Der Donbass ist beinahe zur Gänze besetzt, russische Truppen stehen in der Nähe von Kupjansk, und die räuberisch-gierige Hand Russlands und seiner Helfershelfer packt von allen Seiten her zu.

Vor einem Jahr war ich um diese Zeit herum im Donbass. Heute befinden sich diese Städte und Dörfer unter russischer Besatzung. Damals teilten mir Militärs ohne Umschweife und direkt mit: „Dieser Krieg wird lange dauern, jahrzehntelang.“ Sie meinten, dass der Donbass vollständig unter russische Besatzung gelangen würde und wir die Bevölkerung auf einen langen Krieg vorbereiten müssten, was wir aber nicht hören wollten, weil die trügerische Hoffnung auf ein „Happy End“ unseren Blick trübte.

Wie geht es nun weiter? Wie kann man in einer Realität leben, in der der Krieg rund um die Uhr tobt? Wie kann man in einer Realität leben, in der man auf den Straßen immer mehr Menschen mit Amputationen erblickt und in der es immer mehr Tod und Trauer gibt? Die Antwort darauf fällt ganz simpel aus: Man gewöhnt sich einfach daran.

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    So wie man sich an gute Dinge gewöhnt, gewöhnt man sich auch an schlechte. Die erste Explosion erschreckt dich, die zweite ebenso und auch noch die dritte. Aber irgendwann vernimmt man nur noch ein Geräusch, an das man sich gewöhnt hat und mit dem man lebt, als wäre es nichts anderes als ein Snack zum morgendlichen Kaffee.

    So ist das Leben in Charkiw heute. Explosionen gehören zu unserem Alltag dazu, genauso wie in Paris ein köstlicher Kaffee am Morgen und ein duftendes Croissant oder in Österreich ein Ausflug in die Berge zum Wandern dazugehört. Jeder Mensch lebt seinen eigenen Alltag, nur bei uns ist er mit Blut und dem Geruch von Raketentreibstoff durchzogen.

    Charkiw bereitet sich auf den dritten Kriegswinter vor. Man sagt, es wird der schlimmste werden, aber dieses Wort macht uns keine Angst mehr. Oder etwa doch? Irgendwo in unserem Unterbewusstsein bereiten wir uns immer auf das Schlimmste vor. Jede Generation von Menschen in der Ukraine hat einen Krieg erlebt. Wir sind Menschen des Krieges, wir wissen nicht, was Frieden ist, und wir sind immer auf das Schlimmste gefasst. Das ist anstrengend, und man möchte am liebsten alles hinter sich lassen und in ein ruhiges und friedliches Europa gehen, wo die Menschen wissen, was Frieden ist.

    Einige Militärs sagen, dass es einen Bürgerkrieg geben wird. Zu viele Menschenleben wurden für den Donbass geopfert, und sehr viele Menschen werden sich nicht damit abfinden, dass der Donbass vollständig besetzt ist. Andere wiederum haben die Teilung längst akzeptiert und machen mit ihrem Leben weiter.

    Man sagt, dass Bürgerkriege die blutigsten Kriege sind.

    Ukrainischer Soldat auf einem Trainingsgelände in der Region Donetsk. Foto: AP/Ukrainian 24th Mechanised Brigade/Oleg Petrasiuk

    Charkiw bereitet sich darauf vor, einen dritten Winter unter den Bedingungen des Krieges zu erleben. Man sagt, es werde der härteste sein. Das Wärmekraftwerk, das die gesamte Stadt versorgte, ist vollständig zerstört, und der Beginn der Heizperiode wurde auf Anfang November verschoben. Doch die Natur ist auf unserer Seite: Es ist Ende Oktober, und draußen ist es 18 Grad warm. In früheren Jahren ist um diese Zeit bereits der erste Schnee gefallen.

    Wir bekommen autonome Kraftwerke, die ganze Stadtteile mit Strom versorgen können. Es ist eine Art gegenseitige Jagd mit dem Ziel, den jeweils anderen zu überlisten: Entweder wir überlisten Russland oder Russland überlistet uns. Allerdings hat das Land des Aggressors weit größere Ressourcen an Bomben und Menschen, sodass das Zermürbungsspiel weitergeht.

    Es heißt, dass die Menschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht wussten, dass ein Krieg dieses Namens über sie hereingebrochen war. Sie lebten einfach ihr Leben weiter, und von irgendwo draußen her konnten sie den Lärm und den Widerhall der Kämpfe hören. Vielleicht wissen auch wir nicht, dass wir uns bereits im Dritten Weltkrieg befinden. Wir haben es mit nordkoreanischen Söldnern und iranischen Drohnen zu tun, sodass sich die Frage stellt, ob das noch ein russisch-ukrainischer oder gar schon ein globaler Krieg ist.

    Bombenschäden im Oktober an einem Wohngebäude in Charkiw. Foto: Imago Images/Viacheslav Madiievskyi

    Ich würde gerne glauben, dass dieser Krieg eines Tages zu Ende gehen wird, aber es reicht schon aus, auf den Balkon zu gehen und die Explosionen zu hören. Von meiner Wohnung aus vernehme ich alles, was sich am Horizont abspielt. Dort, 30 Kilometer entfernt, ist die Front, aber hier bei mir gibt es noch Anzeichen für ein „normales“ Leben, in dem wir uns auf den Winter vorbereiten; wir kaufen Öfen, dämmen und isolieren unsere Wohnungen und entwickeln Aktionspläne für den Fall eines Strom- und Heizungsausfalls. Vor einer Woche wurde Charkiw massiv beschossen, und die ganze Stadt war ohne Strom. Wenn man auf den Balkon geht und auf die dunkle Stadt ohne ein einziges Licht blickt, wirkt sie wie eine Geisterstadt aus einer vergangenen Zivilisation, die längst ausgestorben ist und von der nur noch steinerne Gebäude als Zeugen ihrer einstigen Existenz übriggeblieben sind.

    Doch nur wenige Stunden später wurde der Strom wieder eingeschaltet, sodass wir in einem Wechselspiel von völliger Dunkelheit und dem hellen Flackern von Glühbirnen leben.

    Doch die Freude über die wiedererlangte Helligkeit verblasst, und angstvolle Gedanken machen sich in uns breit: Wenn der Donbass zur Gänze besetzt ist, wird Charkiw dann das nächste Opfer sein? Ist das etwa gar nur eine Frage der Zeit? Russland nimmt die zweitgrößte Stadt der Ukraine ins Visier und lässt auf jedem Meter seines Vorrückens verbrannte Erde zurück. Wir haben bereits einmal standgehalten, aber werden wir es ein weiteres Mal schaffen?

    Wir kämpfen seit Hunderten von Jahren für unsere Unabhängigkeit, unsere Identität und unser Heimatland. Werden wir die letzte Generation sein, die einen Krieg erlebt, oder wird dieser Krieg der Beginn eines noch größeren Konflikts sein, der die ganze Welt verschlingen wird? Wir wissen es nicht und bereiten uns nur auf den bislang schlimmsten Kriegswinter vor.

    Übersetzung: Arno Wonisch

Karina Beigelzimer

Der September bringt für mich eine besondere Spannung mit sich. Seit 27 Jahren arbeite ich als Journalistin und seit 26 Jahren als Lehrerin – zwei Berufe, die mir viel Freude und Erfüllung schenken. Als Lehrerin habe ich das Privileg, junge Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen etwas von mir mitzugeben.

Doch dieses Jahr sind meine Gefühle widersprüchlich. Einerseits freue ich mich darauf, meine Schülerinnen und Schüler wiederzusehen, andererseits wird diese Freude von den düsteren Schatten des Krieges überschattet, der unser Leben bestimmt.

Am ersten Schultag gab es einen Moment, der mich besonders berührte: Unser Schulleiter, der sich derzeit an der Front befindet, schickte eine Videobotschaft an die Schüler. Sie lauschten seinen Worten, viele von ihnen tief bewegt. Da der Krieg schon so lange andauert, kennen die jüngeren Schüler ihn nur aus Erzählungen. Umso ergreifender war es, seine Stimme zu hören – ein Moment, der die harte Realität des Krieges spürbar machte.

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    Trotz all dieser Herausforderungen bleibe ich entschlossen, weiterzumachen. Es ist für mich nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine Quelle der Inspiration, die Resilienz meiner Schülerinnen und Schüler zu sehen. Gemeinsam balancieren wir zwischen dem Schutz vor der Bedrohung und dem Wunsch, ihnen dennoch eine stabile und fördernde Lernumgebung zu bieten.

    Unser neues Schuljahr begann unter erschwerten Bedingungen. Unser Schutzraum entspricht nicht den Sicherheitsstandards, die in unserer Stadt jetzt erforderlich wären. Die ersten Tage haben wir den Unterricht online abgehalten, mittlerweile arbeiten wir in Schichten und nutzen eine Mischform aus Präsenz- und Onlineunterricht. Die Klassen, die im Schulgebäude sind, müssen im Falle des Luftalarms drei Minuten zum Schutzkeller eines anderen Gebäudes laufen, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet.

    Da Raketen aus der Krim nur wenige Minuten brauchen, um uns zu erreichen, habe ich eine neue Angst entwickelt: meine Schülerinnen und Schüler während eines Raketenangriffs auf offener Straße zu führen.

    Die Schülerinnen und Schüler der Autorin müssen bei Luftalarm über die Straße in den Schutzkeller eines anderen Gebäudes fliehen. Foto: Privat

    Doch trotz all der Herausforderungen habe ich mir kürzlich eine kleine Auszeit gegönnt. Ich wurde zu einer ganz besonderen Hochzeit eingeladen – einer ukrainisch-österreichischen Feier. Die Braut, Anastasia, ist eine ehemalige Schülerin von mir. Nach ihrem Studium arbeitete sie viele Jahre als Deutschlehrerin und war schließlich Direktorin eines deutschen Unternehmens in Odessa. Ihre Liebesgeschichte klingt wie ein modernes Märchen: Im Herbst bat ihr ehemaliger Chef sie, sich mit Philippe, einem IT-Spezialisten aus Österreich, in Verbindung zu setzen, um ein Problem zu lösen. Aus dem beruflichen Kontakt entwickelte sich rasch mehr.

    Im November flog Anastasia nach Wien, und im Januar kam Philippe, trotz der unsicheren Lage, in die Ukraine, um sie zu besuchen. Die beiden heirateten im Sommer in Österreich, doch die Hochzeitsfeier fand im September in Odessa statt, da Anastasias Vater das Land wegen des Krieges nicht verlassen kann.

    Das ukrainisch-österreichische Hochzeitspaar am Strand von Odessa. Foto: Privat

    Die Zeremonie am Meer war unvergesslich. Das Brautpaar hatte nur die engsten Freunde und Verwandten eingeladen, einige reisten sogar aus Wien an. Die Hochzeit war von ukrainischen Traditionen geprägt, und das Schicksal meinte es gut mit ihnen: An diesem Abend herrschte in Odessa eine friedliche Stille. Kein Luftalarm, keine Explosionen, nur das sanfte Rauschen des Meeres, das im Einklang mit den Herzen des Brautpaares schlug. Die Sonne schien, als würde sie den Weg der beiden segnen.

    Und so stand ich am Ufer des Schwarzen Meeres, sah dem glücklichen Paar zu und dachte: Es sind diese Momente, die mich daran erinnern, dass es auch in den schwierigsten Zeiten Lichtblicke gibt. Liebe, Hoffnung und Menschlichkeit finden immer einen Weg – selbst im Krieg. Manchmal braucht es nur zwei Menschen, die den Mut haben, einander zu begegnen, um die Welt ein kleines bisschen heller zu machen.

Karina Beigelzimer

Meine Heimatstadt Odessa erlebt den dritten Sommer im Schatten des Krieges mit Russland. In den letzten Tagen hat Russland erneut die Ukraine mit zahlreichen Drohnen und Raketen angegriffen. In der Stadt ist der Strom ausgefallen, und wir haben Explosionen gehört. Der Betrieb des elektrischen Nahverkehrs wurde vorübergehend eingestellt. Odessa befindet sich jetzt in einem fragilen Gleichgewicht zwischen Normalität und Ausnahmezustand.

Doch trotz der allgegenwärtigen Gefahr zeigt die Stadt eine beeindruckende Resilienz und Lebenskraft. Die Straßen, die zu Beginn des Krieges oft menschenleer waren, füllen sich wieder mit Leben. Entlang der Küste flanieren Paare, Kinder spielen am Strand, und die salzige Meeresluft erfüllt die Stadt mit einem Hauch von Normalität. Die Menschen von Odessa, stolz und ungebrochen, zeigen, dass ihre Stadt lebt und niemals untergehen wird.

Ein entscheidender Faktor für dieses neue Lebensgefühl ist die Stärkung der Luftabwehrsysteme. Sie geben den Einwohnern und Besuchern ein gewisses Maß an Sicherheit, das es ihnen ermöglicht, zumindest für einige Stunden den Krieg zu vergessen. Odessa ist wieder ein Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Ukraine. Von Charkiw über Kiew bis Dnipro – die Nachfrage nach Tickets ist so hoch, dass sie oft Wochen im Voraus ausverkauft sind.

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    Odessa ist wieder ein Ort, der von seinem Tourismus lebt. Die Einnahmen durch die Gäste sind essenziell für die lokale Wirtschaft. Hoteliers, Taxifahrer und Restaurantbesitzer profitieren von den Besuchern. Und obwohl die Zahl der ausländischen Touristen gering ist, tragen auch sie dazu bei, dass sich Odessa wieder wie die offene und herzliche Stadt anfühlt, die sie immer war.

    Besonders die Strände, die lange Zeit geschlossen waren, erleben nun eine Renaissance. Mehrere von ihnen wurden in diesem Sommer wieder eröffnet, vorher wurden sie gründlich auch nach Minen untersucht, gereinigt und renoviert. Die regionale Militärverwaltung stellte kürzlich eine aktualisierte interaktive Strandkarte vor, die rund 80 Zonen entlang der Küste von Odessa erfasst. Diese Karte zeigt grüne Bereiche, die sicher und für Besucher empfohlen sind, orangefarbene Zonen, in denen Einschränkungen gelten, und rote Zonen, die strikt verboten sind.

    Zwischen Krieg und Urlaubsidyll: Strandbefestigung und Badegäste in Odessa. Foto: Imago/Nina Liashonok/Avalon

    Die Verfügbarkeit von Schutzräumen in Hotels und an öffentlichen Plätzen spielt eine entscheidende Rolle, um Touristen anzuziehen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Obwohl viele Einrichtungen mittlerweile Schutzräume bereitstellen, ist die Anzahl dieser Orte noch immer unzureichend. Zudem fehlt es oft an klaren Hinweisen und Informationsmaterialien, die Touristen im Ernstfall schnell und effektiv informieren. Eine weitere Herausforderung ist die Gewöhnung an den ständigen Fliegeralarm, wodurch viele Menschen die Schutzräume ignorieren – ein gefährliches Spiel mit der eigenen Sicherheit, was die psychische Belastung der Menschen durch den Krieg verdeutlicht.

    Doch die Herausforderungen in Odessa beschränken sich nicht nur auf die Sicherheit. Der Krieg hat auch die Infrastruktur schwer beschädigt. Um die ständigen Stromausfälle zu überbrücken, wurden in vielen Hotels, Cafés und Supermärkten Notstromaggregate installiert. Diese Anpassungen zeugen vom Einfallsreichtum und der Widerstandsfähigkeit der Stadt und ihrer Bewohner. Ein besonders berührendes Beispiel für die Solidarität erlebte ich vor einigen Wochen während einer schweren Hitzewelle: In einem kleinen Bus bot der Fahrer seinen Fahrgästen kostenlos Fächer an, um ihnen die Fahrt angenehmer zu gestalten. Solche Gesten der Menschlichkeit sind es, die Odessa zu einer Stadt machen, in der das Herz trotz aller Widrigkeiten weiter schlägt.

    Die Stadt kämpft nicht nur gegen die äußeren Bedrohungen, sondern auch darum, ihre Seele und Kultur zu bewahren. Veranstaltungen finden weiterhin statt, wenn auch in kleinerem Rahmen. Vor kurzem öffnete das Archäologische Museum, das älteste Museum in Odessa, nach zweieinhalb Jahren wieder seine Türen. Die erste Ausstellung widmet sich der Insel Zmeiny von der Antike bis zur Gegenwart. Zur Eröffnung sind Hunderte Besucher ins Museum geströmt, obwohl es während der langen Schließzeit fast leer war und die wertvollsten Exponate bis zum Sieg sicher eingelagert wurden.

    Ein Stück Normalität: Die Straßen Odessas füllen sich mit Leben. Foto: Privat

    Ein Zeichen der Hoffnung ist auch die Präsenz ukrainischer Soldaten, die sich in der Stadt erholen. Oft sieht man sie in Parks und Cafés, wo sie Zeit mit ihren Kameraden oder Familien verbringen. Diese Soldaten, die an der Front schwerste Belastungen erlebt haben, suchen in Odessa ein Stück Ruhe und Frieden. In speziellen Erholungsheimen werden ihnen nicht nur physische, sondern auch psychologische Betreuungsprogramme angeboten, um ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Die Strände, die besonders für Menschen mit Behinderungen eingerichtet wurden, sind ein weiteres Beispiel für Odessas Bemühungen, allen Menschen, besonders den Verletzten des Krieges, ein Stück Normalität zurückzugeben. Der Kontakt zwischen den Soldaten und den Bürgern Odessas ist oft von Herzlichkeit geprägt. Ein bewegender Moment ereignete sich auf einem Markt in Odessa, als eine ältere Frau einem Soldaten einen Korb mit frischem Obst schenkte und ihn mit Tränen in den Augen umarmte. Die Menschen versuchen auf jede erdenkliche Weise, ihre Unterstützung und Wertschätzung zu zeigen, sei es, ein aufmunterndes Lächeln oder das Zuhören, wenn ein Soldat von seinen Erlebnissen erzählt.

    Ein weiteres ergreifendes Bild in der Stadt sind die Kinder, die aus verschiedenen, besonders vom Krieg betroffenen Regionen der Ukraine nach Odessa gekommen sind. Diese Kinder, z. B. 300 aus Charkiw, die oft Schreckliches erlebt haben, finden hier Ablenkung und Freude. Sie verbringen ihre Tage am Strand, nehmen an kulturellen und Freizeitaktivitäten teil und erhalten eine umfassende Betreuung, die ihnen hilft, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.

Karina Beigelzimer

Nach zweieinhalb Jahren Krieg gab es für meine Schüler und mich endlich eine schöne Gelegenheit, durchzuschnaufen: Wir sind gemeinsam für eine Woche nach Ulm gefahren.

Das internationale Donaufest findet alle zwei Jahre in Ulm statt. Das besondere Flair zeigt sich schon zur Eröffnung: Am Donauufer stehen hunderte Fahnen, die zusammen betrachtet, ein Motiv ergeben, das über die Fahnen hinausweist. Mal sind es farbenfrohe Wellen, dieses Mal bilden Buchstaben die Namen der Donaustaaten sowie das Wort „Donau“ in unterschiedlichen Sprachen des Donauraums.

Das Festgelände präsentiert eine bunte Mischung von internationalen Kunsthandwerkerständen. An ihnen kann man sich Souvenirs aus all den Ländern kaufen, durch die die Donau fließt, ohne dort hinreisen zu müssen. Das Ganze umrahmt ein reichhaltiges Kulturprogramm. Für Kinder werden unter anderem Bastelkurse angeboten. Wenn man davon genug hat, kann man sich kulinarisch durch den gesamten Donauraum schlemmen.

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    Ob serbische Bohnensuppe, österreichische Palatschinken (Pfannkuchen), ungarisches Langosch bis hin zu ukrainischen Wareniki – hier muss niemand hungern. Über dem ganzen Gelände weht der leckere Duft all dieser köstlichen Speisen.  Ich freue mich immer wieder auf dieses schöne Erlebnis. Rund 80 Schüler aus zehn Ländern haben in diesem Jahr daran teilgenommen. In Ulm angekommen, wurden alle herzlichst von der Leiterin, Dr. Swantje Volkmann, empfangen.

    Meine Schüler/innen haben in den letzten zweieinhalb Jahren Krieg und Zerstörung erlebt. Was mich als Erwachsene oft an meine Grenzen bringt, belastet die Seelen der Kinder noch viel mehr. Im Donaujugendcamp können sie für einige Tage das erleben, wovon sie träumen: ein Europa, in dem Menschen aus unterschiedlichen Staaten friedlich zusammenleben, zusammenarbeiten und voneinander lernen. Statt Vorurteilen herrschen hier Neugierde und Toleranz vor.

    Innerhalb weniger Tage erarbeiteten die Jugendlichen ein Theaterstück, das zum Abschluss des Jugendcamps mit Erfolg aufgeführt wurde. Einige machten Musik, andere übten Tänze ein oder gestalteten das Bühnenbild. Am Ende feierten alle zusammen und traten danach müde, aber glücklich die Heimreise an. „Das Camp ist eine Chance, die Welt ein bisschen besser zu machen“, meinte Max, ein Teilnehmer aus Deutschland. „Wir kommen mit so vielen Ideen und Inspirationen nach Hause.“ Es gibt viele Beispiele, bei denen aus diesen Begegnungen Freundschaften entstanden sind, die bis heute halten.

    Die Autorin mit ihren Schülerinnen und Schülern in Ulm. Foto: Privat

    Der Krieg bleibt in den Köpfen der Jugendlichen vorherrschend. Meine Schülerinnen und Schüler erkundigten sich oft mehrmals täglich über ihr Handy, wie es ihren Freunden und Verwandten in der Heimat geht. Die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Monate lassen sich auch im Ausland nicht so einfach abschalten.

    Ein besonders berührender Moment war, als mein Schüler Oleksii Dremliuk, nachdem er von der Zerstörung des Kinderkrankenhauses in der Ukraine gehört hatte, spontan sein ganzes restliches Geld aus der Reisekasse spendete, um den Kindern zu helfen. In seiner Rede sagte Oleskii: „Europa ist nicht nur ein geografischer Raum, sondern eine Idee, die uns inspiriert und uns zusammenführt. Für mich, als jemand, der aus der Ukraine kommt, hat dieser Austausch eine besondere Bedeutung. Meine Heimat hat in den letzten Jahren viel Leid wegen des Krieges erfahren. Doch hier, in diesem Camp, erlebe ich eine Gemeinschaft, die Hoffnung und Zuversicht ausstrahlt. Wir alle haben hier die Möglichkeit, voneinander zu lernen, uns gegenseitig zu unterstützen und uns auszutauschen. Lassen Sie uns also gemeinsam an einer Zukunft arbeiten, die auf Respekt, Toleranz und Zusammenarbeit basiert.“

    Diese Worte spiegeln wider, was das Internationale Donaufest und das Donaujugendcamp so besonders macht: die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Freundschaft und die Überwindung von Grenzen durch gemeinsames Erleben und Lernen.

    Foto: Privat

Karina Beigelzimer

Der Juni in Odessa riecht nach Krieg und Meer. Seit über zwei Jahren tobt der Krieg in unserem Land und ist zu einer bitteren Realität geworden. Obwohl die Front weit weg ist, machen ständige Drohnen- und Raketenangriffe sowie Fliegeralarme das Leben schwer. Auch lange Stromausfälle sind zurückgekehrt und erinnern mich stark an den Winter 2022, als wir oft stunden- oder sogar tagelang ohne Strom auskommen mussten.

Diese Stromausfälle machen das Planen fast unmöglich, sodass ich oft improvisieren muss. Im Alltag bin ich gezwungen, mich nach den verfügbaren Stromzeiten zu richten. Kochen, Waschen und andere Haushaltsaufgaben müssen in die wenigen Stunden passen, in denen Strom vorhanden ist. Das erfordert viel Flexibilität und schnelles Handeln.

In meiner Arbeit nutze ich jede Minute mit Strom so produktiv wie möglich. Oft fühlt es sich an wie ein Wettlauf gegen die Zeit, und ich habe gelernt, immer bereit zu sein, sobald der Strom wieder da ist. Dieser ständige Anpassungsdruck erhöht den Stress enorm, besonders da der Alltag ohnehin schon durch die täglichen Drohnen- und Raketenangriffe belastet ist. Die Kombination aus unsicherer Stromversorgung und ständiger Bedrohung hat dazu geführt, dass viele Menschen, darunter auch einige meiner Bekannten, darüber nachdenken, die Region zu verlassen.

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    Da es in der Schule, in der ich arbeite, Ferien gibt, habe ich mehr Zeit für meine journalistische Tätigkeit. In der Stadt ist viel los, aber Odessa wirkt müde. Die Mobilisierung hat die Gesellschaft gespalten: Diejenigen, die an der Front sind und Erholung brauchen, und diejenigen, die nicht kämpfen wollen. Es ist eine schwierige Situation.

    Aber der Sommer bleibt der Sommer, und die wunderschöne Natur blüht in schönen Farben. Einige Strände sind wieder offen und locken viele Menschen an. Für mich ist es keine Option, entspannt baden zu gehen, wenn so oft Raketen und Drohnen fliegen. Trotzdem gehe ich ab und zu ans Meer, um frei atmen zu können, einfach einen Kaffee zu trinken, aber immer in der Nähe eines Schutzkellers.

    Einige Strände sind in Odessa wieder offen. Am Meer kann man auch etwas trinken gehen. Foto: Privat

    Touristische Angebote in Odessa richten sich zurzeit vor allem an Binnentouristen und die Bewohner der Region. Ausländische Gäste reisen derzeit selten nach Odessa. Trotzdem ist die Vielfalt der angebotenen Aktivitäten beeindruckend: von Gastrotouren über Verkostungen in den Katakomben bis hin zu einem Bierfestival und einem Fest im Botanischen Garten. Auch semi-kulturelle Veranstaltungen sind geplant, wie ein Brunch mit Schauspielern. Es gibt auch Stadtführungen für Flüchtlinge und Quests für Kinder.

    In letzter Zeit wurden in Odessa viele kleine gemütliche Cafés eröffnet, die oft thematische Abende oder Vorlesungen veranstalten. Diese Ereignisse zeigen, dass die Menschen sich einerseits vom Krieg ablenken wollen, andererseits auch ein Stück Normalität für ihr Leben wiedererlangen möchten. Ein anderes Beispiel ist das Odessaer Filmstudio, dessen Leiter kürzlich den Plan vorgestellt hat, einen historischen Film über die Stadt zu drehen. Solche Nachrichten sind sehr wichtig für die Moral der Bewohner und Gäste der Stadt.

    Es ist Abend. Ich sehe Kinder, die in den Parks spielen, Paare, die Hand in Hand spazieren gehen, und alte Freunde, die sich an Straßenecken unterhalten. Diese Momente geben mir Hoffnung. Hoffnung, dass wir irgendwann in einer friedlicheren Zeit leben werden.

    Der Juni in Odessa ist eine Mischung aus Krieg und Meer, aus Schmerz und Schönheit, aus Hoffnung und Resilienz. Es ist ein Monat, der uns daran erinnert, dass das Leben in all seinen Facetten weitergeht, auch wenn die Umstände schwierig sind.

Zhenya Laptii

Als ich unter der Besatzung gelebt habe, habe ich die russische Offensive von innen her gesehen. Ich sah eine Seite, die die Namen Verzweiflung, Angst und Unglauben trägt.

Jetzt bin ich auf der anderen Seite, und es gibt wieder eine Offensive, die sich ein weiteres Mal gegen mein Dorf richtet, aber nun stehe ich auf der anderen Seite – ich bin draußen. Mein Leben hat sich wahrlich in eine seltsame Richtung entwickelt. Als ich unter der Besatzung gelebt habe, habe ich mir jeden Tag gedacht: „Was würde ich bloß dafür geben, auf der anderen Seite, in Charkiw, zu sein?“ … Mir fällt dazu die Redensart „Hüte dich vor deinen Sehnsüchten!“ ein.

Je näher man dem Kreisverkehr kommt, desto weniger zivile Autos sieht man, und allmählich verwandelt sich der Strom der Fahrzeuge in ein einziges khakifarbenes Band: Pick-up-Trucks in allen möglichen Ausführungen und Modellen. Es ist, als wären wir irgendwo in Texas gelandet, mitten in einem amerikanischen Film. Die Hitze, unser Pick-up, eine Tankstelle und mein Kaffee … ich tätige zu alldem bloß eine einzige Notiz: „Das ist meine Gegend, das ist meine Straße, die ich immer benutzt habe, um von der Stadt ins Dorf zu kommen.“

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    Der Film geht weiter. Die leere Straße führt auf den Horizont zu, als infolge eines Angriffs ein riesiger Feuerball erscheint und alles Leben in tobenden Flammen aufgehen lässt.

    Ich befinde mich jetzt auf dieser Seite, ich sehe die Offensive von außen. Ich erblicke einen oder zwei unserer Hubschrauber.

    Mein Großvater sagt: „Das sind unsere.“

    Meine Großeltern sind wieder in ihr Dorf zurückgekehrt. Sie haben es nicht einmal eine Woche in Charkiw ausgehalten. Sie wollten zurück zu ihren Wurzeln. Heimaterde bleibt Heimaterde.

    Bei meiner Großmutter läuft alles nach Plan ab: Die Pfingstrosen blühen, die Triebe der Erdbeerstöcke sind abgefroren, die Kartoffelbeete müssen gejätet werden. So ist es seit jeher, und so wird es auch bleiben. Oma ist die stabilste Konstante dieser Welt.

    Die güldene Sonne taucht alles in honigfarbenes Licht.

    Großvater zeigt Anja (meiner Freundin, die mit mir mitgekommen ist) eine Blume und brüstet sich mit seinem Wissen:

    Das ist eine Levkoje, sie blüht in der Nacht; sie riecht so gut, was ist das doch für ein Duft!

    Ja, es riecht hier wirklich so gut wie sonst nirgendwo auf der Welt, und auch die bloße Erde verströmt Duft. Schwarze Erde, fruchtbare Erde, meine Erde!

    Aber es ist Zeit zu gehen, und wir verabschieden uns von meinen Großeltern. Wir knuddeln die Katzen und fahren nach Charkiw. Eine leere Straße, leere Feldwege, zerbombte Häuser. Vor drei Monaten herrschte hier noch reges Leben, und die Menschen bauten ihre beschädigten und nicht zur Gänze zerstörten Häuser wieder auf, aber jetzt ist es still. Und das Schlimmste ist: Auf die Stille folgt immer ein Sturm.

    Das war letztes Jahr in Kurachowe der Fall, als wir mit einer humanitären Mission dorthin fuhren. Jetzt stehen die russischen Truppen knapp vor der Stadt.

    Und das ist meine größte Angst: dass sich die russischen Truppen Schritt für Schritt, Millimeter für Millimeter meinem Dorf nähern und mein Land verwüsten.

    Die Besatzung war plötzlich da, aber dieses Mal …

    Dieses Mal bin ich draußen und befinde mich auf der Seite, die den Namen Glauben trägt!

    Foto: Privat

    Wir fahren nach Charkiw und passieren ein völlig leeres Dorf; man trifft auf keinen einzigen Zivilisten, nur auf Soldaten. Überall sind Soldaten, es ist jetzt ihr Dorf. Sie herrschen hier. Auf dem Weg nach Charkiw halten wir beim Hauptquartier der Freiwilligen an, wo drei Männer beim Abendessen sitzen.

    Wollt ihr was essen, Mädchen? Es gibt Sülze, Gurken und Tomaten.

    Nein, danke, wir nehmen Decken für die Soldaten mit und fahren weiter, denn es dämmert schon, und wir müssen zurück.

    Aber wir werden dennoch an den Tisch gebeten und mit Essen verwöhnt.

    Das Gespräch dreht sich natürlich um den Krieg, um die Offensive und um die Besatzung. Jeder erzählt von seinen Erfahrungen und erinnert sich daran, wie es unter der Besatzung war.

    Meine Schwiegertochter hat während der Besatzung entbunden; ein hiesiger Therapeut hat das Kind auf die Welt gebracht.

    Und die russischen Soldaten haben nichts gemacht?

    Nein, sie haben uns nur ein paar Windeln gebracht und das war’s.

    Ist es ein Mädchen oder ein Junge?

    – Ein Junge, er wurde am 18. April 2022 geboren.

    Das Gespräch entwickelt sich allmählich in Richtung jener Frage, die mir am meisten auf der Zunge liegt:

    Gab es Verteidigungsanlagen oder nicht? Was hat es mit der Information auf sich, dass es keinerlei Verteidigungsanlagen gab und die Russen einfach so zurückkommen konnten?

    Ja, es gab Verteidigungsanlagen, aber sie waren nicht gut genug.

    Unsere Jungs graben jetzt Tag und Nacht, sie kommen kaum noch nach Hause.

    Heute wurden neue „Drachenzähne“ geliefert; man kann die Jungs auf den Feldern sehen, wie sie graben und die Befestigungen errichten.

    Wir machen uns fertig und gehen zu den Feldern, auf denen ich früher mit dem Fahrrad gefahren bin; ich liebe diese endlosen Felder, auf denen Sonnenblumen, Weizen und Roggen gedeihen. Wenn die Sonne untergeht, scheint sie alles zu Gold zu verwandeln, und man taucht in endloses, güldenes Meer ein …

    „Achtung Minen!“, „Achtung Minen!“, „Achtung Minen!“ – heute befindet sich hier ein Meer an Minen. Die Felder sind eingezäunt, umgeackert und mit den Blumen des Bösen übersät. Unterwegs passieren wir Jungwälder, wir fahren vorbei an Schützengräben, und auf den Feldern sind die Verteidigungsanlagen namens „Drachenzähne“ verstreut, die dem offenen Maul eines riesigen Monsters ähneln, das jeden verschlingen will.

    Aber was ist, wenn dieses Ungeheuer uns alle verschluckt – was und wer bleibt dann noch übrig?

    Ich träume davon, zu einer Zeit nach Hause zurückzukehren, in der es kein Ungeheuer mehr gibt und stattdessen die Sonne, die Sonnenblumen, den Roggen und den Weizen zärtlich streichelt und sie in güldenes Licht taucht.

Olia Fedorova

Харків живе та працює (Charkiw lebt und arbeitet) – dieser Slogan ist jetzt überall in der Stadt zu sehen, auf Plakatwänden und Citylights. Zum ersten Mal tauchte er bereits während der Belagerung auf, gleich nach Beginn der groß angelegten Invasion. Charkiw war damals ziemlich leer und sehr ruhig, und dann zu erleben, dass die Stadt nicht nur überlebt hat, sondern dass ihr Herz genauso aktiv schlägt wie zuvor, war besonders wichtig und eindrucksvoll.

Alle, vom Bürgermeister bis zum Stadtgärtner, haben immer wieder gezeigt, dass Charkiw sehr fleißig ist, hart arbeitet und sich von nichts aufhalten lässt, egal ob es sich um die Instandhaltung wichtiger Infrastrukturen oder die Pflege der Blumenbeete handelt. Eigentlich habe ich einen solchen Fokus auf die Arbeit in keiner anderen ukrainischen Stadt gesehen, irgendwie wurde das zu einer Art Markenzeichen von Charkiw.

Ende 2023 sind viele Menschen zurückgekehrt, Restaurants und Geschäfte, Clubs und Schönheitssalons, Kunstgalerien und Theater, Kinos und Einkaufszentren haben wieder geöffnet – viele Gelegenheiten, um den russischen Angreifern zu zeigen, dass er Charkiw nicht vom Leben (und Arbeiten) abhalten kann.

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    Gewöhnliche Handlungen – der morgendliche Gang ins Café, der Termin beim Friseur oder im Nagelstudio, der Besuch eines Konzerts – wurden zu Manifestationen von Mut und Widerstandskraft, sie verbreiteten sich über die sozialen Medien und dienten den ukrainischen Mitbürgern und den Bewohnern der Stadt selbst als Ansporn und Unterstützung. Das Leben schien zu einer Art „Normalität“ zurückgekehrt zu sein, eine Kriegsversion davon, mit Luftangriffen (bei denen alle Unternehmen ihren Betrieb einstellen sollten, was aber nur wenige tatsächlich tun) und Ausgangssperren. Die Wintersaison verlief nicht allzu schlecht, und irgendwann hatte man das Gefühl, dass die Gefahr von Stromausfällen gebannt und die Vorbereitungen darauf etwas übertrieben waren.

    Doch am 22. März diesen Jahres startete Russland einen der größten Angriffe auf die kritische Infrastruktur von Charkiw seit Beginn des Krieges. Das riesige Kraftwerk, das die Stadt mit Strom versorgte, das zweitgrößte ukrainische Kraftwerk dieser Art, wurde vollständig zerstört. Licht und Heizung waren weg, die Wasserversorgung in einigen Haushalten ebenfalls. Zu der Zeit habe ich den Kontakt zu meiner Mutter und meinen Großeltern für eine Weile verloren, da auch die Mobilfunkverbindung stark beeinträchtigt war. Es ist eines der schlimmsten Gefühle überhaupt, seine Lieben nicht erreichen zu können, während man sich Hunderte Kilometer entfernt in Sicherheit befindet.

    Dieser Tag, der 22. März, markierte den Beginn einer schwierigen Zeit für meine Stadt, die immer noch andauert. Obwohl sich die Lage bei der Stromversorgung einigermaßen stabilisiert hat – Charkiw wird jetzt hauptsächlich von den Nachbarregionen mit Strom versorgt – gehören die planmäßigen Stromausfälle wieder zum Alltag. So schlimm war es nicht einmal im Herbst 2022, damals war Kiew das Hauptziel, während in Charkiw nicht einmal die Straßenbeleuchtung im Stadtzentrum abgeschaltet wurde.

    Jetzt tauchte die Stadt wieder in Dunkelheit ein und das erinnert an die Zeit, als Charkiw wirklich von der Einnahme bedroht war. Diese Erinnerungen, zusammen mit den „Informationslecks“, etwa dass der Kreml 300.000 Mann versammelt, um sie erneut auf Charkiw zu werfen, und den Behauptungen der russischen Behörden, das gesamte Gebiet in eine „Sanitätszone“ (russischer Neusprech, wie z. B. auch „Militärische Spezialoperation“) verwandeln zu wollen, um damit ihre Grenzregionen zu sichern, haben die Stimmung der Menschen nicht gerade positiv beeinflusst. Aber ich würde sagen, auch nicht so, wie es Russland erwarten würde, die Bürger von Charkiw sind eher verärgert und wütend als verzweifelt und in Panik.

    Aufräumarbeiten nach einem russischen Raketenangriff auf Charkiw. Foto: Imago/Vyacheslav Madiyevskyy

    Stellen Sie sich vor, Sie versuchen einfach nur zu leben und zu arbeiten, in einem vom Krieg zerrissenen Land mit einer schwierigen wirtschaftlichen Lage, ganz zu schweigen von der ständigen Bedrohung aus der Luft, und dann müssen Sie Ihr Leben und Ihre Geschäfte an die Stromausfälle anpassen, die je nachdem, ob sie Glück haben oder nicht, vier bis zwölf Stunden dauern. Und zu allem Überfluss hören Sie rund um die Uhr, dass Russland Ihre Stadt in wenigen Wochen, wenn nicht schon morgen, belagern und besetzen wird. Das kann selbst die Härtesten erschüttern.

    Aber die Menschen zu veranlassen, aus der Stadt zu fliehen oder gar von der ukrainischen Regierung zu fordern, dass sie sich auf „Friedensverhandlungen“ einlässt, egal zu welchen Bedingungen, das geht sich definitiv nicht aus, egal was russische Medien behaupten (und leider auch einige westliche Medien, die aus irgendeinem Grund immer noch auf Russland hören).

    Ich vernahm zahlreiche hysterische Schlagzeilen, wie „Massive Staus auf dem Weg aus Charkiw, die Bürger fliehen vor dem russischen Vormarsch“, „In Charkiw ist alles geschlossen“, „Charkiw ist leer, alle sind weggelaufen“ usw. Zuerst musste ich darüber lachen, aber irgendwann wurde es mir zu dumm. Denn als ich meine Familie in Charkiw besuchte, habe ich mit eigenen Augen die Menschenmengen in den Einkaufszentren gesehen, in Cafés, Parks und auch auf den Straßen, und all die Staus, aber innerhalb der Stadt und nicht auf dem Weg hinaus.

    Ich wurde zweimal Zeugin, wie meine Mutter auf einem Messengerdienst Nachrichten von einer unbekannten Nummer erhielt. Es war zu lesen: „Hier spricht die Stadtverwaltung. Aufgrund der drohenden Belagerung raten wir allen Bürgern von Charkiw, die Stadt zu verlassen“. Selbst ohne Richtigstellung durch die echte Stadtverwaltung war klar, dass es sich bei diesen Nachrichten um Fälschungen handelte, die von russischen Trollen verschickt wurden, um Panik zu verbreiten, gleich wie mit den Schlagzeilen.

    Aber bedauerlicherweise haben manche Menschen, die meisten davon außerhalb Charkiws, daran geglaubt, und das hat die Sache noch ärgerlicher gemacht, denn jetzt muss jeder in Charkiw, vom Bürgermeister bis zum Stadtgärtner, ständig versichern, dass die Stadt weiterhin lebt und arbeitet und dass das auch so bleiben wird.

    In Charkiw passt man sich – wie hier die Autorin – an die Stromausfälle an. Foto: Privat

    Unterdessen passt sich Charkiw schnell an die Zeiten ohne Strom an. Die Straßen sind dann sofort erfüllt vom Sound brummender Generatoren, jedes Geschäft hat seinen eigenen, vollgetankt und im Freien aufgestellt. Manchmal merkt man gar nicht einmal, dass der Strom weg ist, alles funktioniert wie gewohnt. Restaurants und Cafés, die zusätzlich „Starlink“-Satelliteninternet-Empfänger haben, bieten sich als Coworking-Spaces für diejenigen an, die zu Hause keine Internetverbindung haben.

    Meine Mutter hat ein kompaktes Kraftwerk in unserer Wohnung, aber sie benutzt es nur, wenn sie dringend ein Gerät braucht (z. B. einen Föhn, falls sie es nicht geschafft hat, die Haare zu trocknen, bevor der Strom ausfiel). Zur Beleuchtung hat sie LED-Girlanden im ganzen Haus, und auch verschiedene Kerzen, die machen es ein bisschen gemütlicher. Und wenn sie etwas mit beiden Händen machen muss benutzt sie eine Stirnlampe. Blackouts am Abend sind übrigens eine Zeit, um zu entschleunigen und sich auszuruhen.

    Man kann wegen der schlechten Verbindung einfach nicht wie gewohnt Stunden in den sozialen Medien verbringen, also schaut man zuvor heruntergeladene Filme, liest ein E-Book oder geht einfach schlafen. Ich kenne Leute, die verbringen die Blackouts mit Live-Musik oder Brettspielen, spielen mit ihren Kindern und Haustieren oder reden einfach miteinander. Es ist eine Art Flashback auf jene Zeiten, in denen die Menschen nicht ständig online waren. Und es ist definitiv nicht das, was Russland von ihnen erwarten würde, es ist definitiv nicht Verzweiflung, Angst und Panik, obwohl die Menschen natürlich erschöpft sind. Dennoch schaffen sie es, auch in derart dunklen Zeiten zu leben und zu arbeiten, und liefern den Beweis dafür, dass Charkiw nicht zu brechen ist.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Sibylle Hamann ist eine österreichische Bildungspolitikerin und Abgeordnete zum Nationalrat (Grüne). Als die Nachricht von ihrem bevorstehenden Besuch in Odessa auf meinem Handy auftauchte, war meine erste Reaktion ein Mix aus Freude und Besorgnis. Die aktuelle Lage in unserer Region hatte sich in den letzten Wochen dramatisch verschlechtert. Was früher nur gelegentliche Drohnen- und Raketenangriffe waren, hatten sich zu bedrohlichen, täglichen Ereignissen entwickelt, bei denen leider auch Menschen zu Schaden kamen.

Viele Politiker hatten daher in diesen Wochen vermieden, nach Odessa zu reisen, aus Angst vor der unsicheren Lage. Umso überraschter war ich, als Frau Hamann schließlich doch ankam. Wir trafen uns in einem gemütlichen Café im Stadtzentrum, zusammen mit ihrem Mann, einem bekannten Journalisten.

Kaum hatten wir uns hingesetzt und überlegt, was wir bestellen wollten, als plötzlich der Alarm losging und Explosionen die Luft erfüllten. Ich zuckte zusammen, wich zurück, aber Sibylles Stimme blieb ruhig. „Ich wusste, worauf ich mich einlasse“, sagte sie gelassen. Es war zu spät, um in den Bunker zu fliehen, also blieben wir im Café, das Licht flackerte, und die Stadt litt unter Stromausfällen, verursacht durch die jüngsten Angriffe auf kritische Infrastrukturen.

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    Sibylle Hamann war besonders interessiert daran, wie es ist, inmitten des Krieges zur Schule zu gehen, wie sich Schüler und Lehrer unter diesen schwierigen Bedingungen fühlen. Ich konnte ihr viel aus eigener Erfahrung erzählen, aber sie wollte auch mit meinen 15-jährigen Schülern sprechen.
    Drei von ihnen waren trotz der Ferien sofort bereit, die Gäste aus Österreich zu treffen. Oleksii, der einige Zeit in Holland und Deutschland verbracht hatte, bevor er wegen der Krankheit seiner Mutter in die Ukraine zurückkehrte. Yulia, deren Eltern beim Militär sind und die oft allein mit ihrem jüngeren Bruder bleiben muss. Und Sofia, die zu Beginn des Krieges mit ihrer Mutter nach Deutschland ging, aber im Herbst 2022 zurückkehrte, um bei ihrem Vater zu sein, der in Odessa auf sie wartete, und um ihren Bruder beizustehen, der an der Front kämpft. Alle drei hatten im März die internationale Prüfung abgelegt, ein Wunder, dass sie überhaupt stattfand.

    Sibylle Hamann (rechts) und Bernhard Odehnal mit der Autorin in Odessa. Foto: Privat

    Am 13. März fanden die schriftlichen Prüfungen zum Deutschen Sprachdiplom/DSD1 weltweit auf der nördlichen Halbkugel statt, auch bei uns im ukrainischen Kriegsgebiet. Kurz vor Beginn der Prüfung erhielten wir eine Warnung vor Raketenangriffen. Meine Schüler waren verzweifelt, sie hatten doch lange auf diesen Tag hingearbeitet. Glücklicherweise wurde die Rakete abgefangen, die Schüler eilten zur Schule, und die Prüfung begann pünktlich im Schutzkeller.

    Frau Hamann hörte sich all diese Geschichten an, und viele andere auch. Sie lobte die Schüler für ihren Mut und ihre Kreativität, ließ aber auch durchblicken, dass sie vermutlich traumatisiert seien. „Kinder des Krieges“, wie sie mir später sagte.

    Sie versprach, über ihre Erfahrungen in Odessa und ihre Treffen in Österreich dem Bildungsministerium zu berichten. Die Reise half ihr auch, die Bedürfnisse der ukrainischen Flüchtlinge besser zu verstehen. Viele Kinder besuchen Schulen in Wien und nehmen digital am Unterricht ihrer ukrainischen Herkunftsschule teil oder erledigen nur Aufgaben. Das Pendeln zwischen zwei Schulkulturen und Lehrplänen ist für die Kinder eine große Herausforderung. Einige Jugendliche können sich nicht so gut integrieren oder wollen das auch nicht, da sie möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren möchten.

    Die Begegnung mit Sibylle Hamann und ihrem Interesse an unserer Situation war eine Erinnerung daran, dass selbst inmitten von Konflikten, Kriegen und Unsicherheit die menschliche Verbindung und das Streben nach Verständnis und Mitgefühl uns verbinden können.

Zhenya Laptii

Ein schwankendes Haus, eine Welt, die vor Deinen Augen in sich zusammenfällt. Woher nimmst Du die Kraft, all das wieder aufzubauen, was zerstört wurde? Woher nimmst Du die Kraft, all das zu ertragen?

Nachts heulen Sirenen durch den Traum, wie das ferne Stöhnen eines Wals auf der Suche nach seiner Gruppe. Deine Aufgabe liegt darin, zu erkennen, woher das Geräusch kommt. Du blickst in die Dunkelheit und suchst den Ort, an dem es brennt.

Vier Uhr morgens. Es ertönt eine Explosion, und Deine Hand greift automatisch nach dem Handy. Gibt es schon Informationen? Es folgt eine weitere Explosion und danach noch eine, sodass die Fenster wackeln. Es muss irgendwo in der Nähe sein.

Ich bin so müde und will nur schlafen. Eine süße Stimme irgendwo weit weg im Innersten meiner Seele spricht zu mir: „Schlaf!“, und ich drehe mich um, hülle mich in meine Decke ein wie in eine eiserne Rüstung, die mich vor den Granatsplittern schützen soll. Am Horizont beginnt ein Traum allmählich Konturen anzunehmen, und schon bald kann ich seine Umrisse erkennen … gleich wird es soweit sein … Eine Explosion, deren Druckwelle das Haus ins Wanken bringt.

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    „Steh auf!“, ruft die verräterische Stimme in mir, die mir eben zuvor noch zuflüsterte: „Schlaf!“

    „Steh auf! Lauf! Versteck dich!“, aber wohin soll ich bloß laufen? Wo verstecken? Der Krieg ist für immer mitten unter uns, wir gehen jetzt Hand in Hand mit ihm, wir sind seine Begleiter.

    Der Alarm heult auf, und Schleim erstickt meine Kehle. Eine Explosion nach der anderen. Wie viele sind es?

    Acht oder elf? Elf oder acht Raketen steuerten genau auf ein Ziel zu, doch was war das für ein Ziel? Es war ein Wohngebäude, ein Kulturzentrum. Den Raketen ist es egal, wo sie einschlagen und mit ihren eisernen Zähnen den Tod bringen. Sie sind hochpräzise, geflügelte Ungeheuer, die nur deshalb durch die Luft fliegen, um uns zu vernichten. Sie kennen kein Mitleid, keinen Schmerz, keine Verzweiflung, keinen Tod. Denn sie selbst sind der Tod – ein von Menschen gelenkter, hochpräziser Tod.

    Wir sind es gewohnt, dass man uns töten will.

    Und nur von Zeit zu Zeit stößt uns diese Erkenntnis bitter auf.

    Die Sirene verstummt … Es ist vorbei. Die Decke wird wieder zu meiner Rüstung. Langsam flackert ein Traum am Horizont auf.

    Das zerstörte Haus, in dem die Kinder starben. Foto: Privat

    Sieben Uhr morgens. Ich stehe auf. Der Boden bewegt sich unter meinen Füßen, und meine Füße graben sich in ihm ein, als ob ich mit ihm verwachsen müsste, damit das Haus nicht einstürzt. Ich spüre, wie sich die Decken und Etagen des mehrstöckigen Gebäudes unter mir bewegen. Ich spüre, wie der Beton knarrt und sich das Metall verbiegt.

    Eine Explosion! Und noch eine und noch eine! Der Boden gibt unter meinen Füßen nach, und alles um mich herum ist mit Angst erfüllt. Es ist eine zähe, ekelerregende Angst, die sich unter meiner Haut breitmacht.

    Vielleicht ist es an der Zeit, nach Österreich zu gehen, in die mächtigen Alpen, die mich vor dieser zerbrechlichen Welt schützen werden.

    Ich bin müde, und wir alle sind müde – von der ständigen Trauer, vom Tod und vom Schmerz. In der Ukraine scheinen wir wie in einem unabänderlichen Kreislauf unentwegt etwas aufzubauen, damit es dann zerstört wird; wir bauen es wieder auf, und es wird erneut zerstört … All das erinnert an den endlosen und leidhaften Kreis von Samsara aus der Welt östlicher Religionen. Mit den Alpen hingegen ist es einfach: Sie stehen für das Leben, sie sind wie das Nirwana.

    Angst, Panik, Verzweiflung – und die Alpen.

    Ein Anruf.

    „Geht’s Dir nicht gut?“

    „Ja, warum?“

    „Bei Dir in der Nähe hat es eingeschlagen“, sagt eine Männerstimme in den Hörer.

    Als ob mich das aufmuntern würde, wenn ich weiß, dass etwas in meiner Nähe eingeschlagen hat. Das Wissen, wo etwas niedergegangen ist, stellt keine Erleichterung dar.

    Erst später erfahre ich, dass Kinder gestorben sind. Und auf einmal pocht mein Herz voller Angst.

    Danach sehe ich das Haus, in dem die Kinder umgekommen sind. Es ist ein Haus, das von innen nach außen gestülpt ist und in dem es noch raucht. Mein Herz krampft sich vor Schmerz zusammen. Ein Kind ist an einer Kletterwand gestorben. Der Kreis des Todes wird enger.

    Elf Uhr abends. Eine Explosion jagt die nächste. Und schon wieder dreht sich alles im Kreis: der Hausflur, das Handy, welche Geschosse durch die Luft fliegen und wohin sie fliegen.

    Die Puschkin-Straße heißt jetzt Skovoroda-Straße. Endlich hat man sie umbenannt, nachdem eine russische Rakete ein Haus zerstört und die Straße in Trümmer gelegt hat. Das ist die Straße aus den Jahren meiner Studienzeit, als ich fünf Jahre lang jeden Tag über die Puschkin-Straße (heute Skovoroda-Straße) zur Universität gegangen bin. Es gab dort eine Bäckerei, in der köstliche französische Croissants gebacken wurden, ein Café, in dem aromatischer Kaffee gebrüht wurde, und einen Imbissladen, in dem es die besten Falafel in Charkiw gab. Wo ist das alles jetzt hin? Es wurde von Raketen ausgelöscht. Jeden Tag tauchen neue blutige Spuren und neue zerstörte Häuser auf dem Stadtplan auf.

    Und irgendwo in Russland feuern die Hände irgendwelcher Menschen jeden Tag diese Raketen ab. Das ist ihr Job.

    Der Alltag des Bösen.

    Übersetzung: Arno Wonisch

    Leisten Sie einen Beitrag zum Wiederaufbau der zerstörten Ukraine: www.dobrobat.in.ua

Karina Beigelzimer

Der Februar dauert in der Ukraine schon zwei Jahre. Selbst in den heißesten Tagen spürt man die Kälte des Krieges, und viele Menschen sind wie eingefroren. Als Journalistin und Lehrerin erlebe ich die Herausforderungen dieses andauernden Krieges gefühlt noch viel stärker als viele andere, quasi aus erster Hand.

Die Müdigkeit ist mein ständiger Begleiter, während die Angst mich von Zeit zu Zeit unangenehm durchdringt. Doch ich habe gelernt, damit umzugehen, indem ich aus meiner Komfortzone heraustrete, um dann das zu tun und zu spüren, wovor ich früher Angst hatte. Inmitten von Unsicherheit versuche ich, einen Funken Normalität zu bewahren.

Die Situation an der Front ist sehr schwer, und viele Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen unser Land und die europäische Demokratie mit ihrem Leben. Als Journalistin berichte ich oft über die Geschichten der Menschen, die mit diesem Krieg verstrickt sind. Meine „Feder“ wird zur Stimme der Stummen, während ich versuche, die Welt auf die Realitäten hier aufmerksam zu machen. Jeder Artikel, jede Veröffentlichung, jede Sendung ist ein Versuch, die Wahrheit ans Licht zu bringen und Veränderung herbeizuführen.

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    Manchmal habe ich Angst, dass ich nicht gehört werde, denn die ganze Welt ist müde vom Krieg. Dann arbeite ich noch intensiver, um den Schlüssel zu den Herzen meiner Leser und Hörer zu finden. Besonders schwer ist es, wenn ich mit den Soldaten spreche oder mit den Menschen, die ihre Verwandten oder Häuser verloren haben. Jede solcher Geschichten hinterlässt eine Narbe auf meiner Seele.

    Als Lehrerin versuche ich den Kindern zu vermitteln, dass es wichtig ist, trotz der widrigen Umstände zu lernen, aber dabei das Träumen nicht zu verlernen. Wir nehmen an verschiedenen internationalen Projekten teil, was die Schüler für kurze Zeit den Krieg vergessen lässt. Manchmal sitzen wir stundenlang im Schutzkeller. Und obwohl mich das sehr nervös macht, versuche ich es nicht zu zeigen. Es tut mir unglaublich weh, dass ein wahnsinniger Diktator ihre Kindheit zerstört. Oft kommen meine Schüler nach schweren, schlaflosen Nächten traurig in die Schule und erzählen über ihre Ängste. Dann ist es wichtig, sehr schnell einen Weg zu finden, wie ich sie trösten kann. Vor kurzem postete ich auf Instagram ein Foto eines zerstörten Hauses. Keine 20 Minuten später schrieb mir meine Schülerin Valeria: „Das war mein Haus“. Ihre Familie hat überlebt, ihre Nachbarn wurden schwer verletzt, zwei Menschen starben. Jetzt wohnt das Mädchen in einem anderen Teil der Stadt in der Wohnung ihrer Verwandten.

    Ukrainische Soldaten nahe der Stadt Awdijiwka, aus der sich die ukrainische Armee Mitte Februar zurückgezogen hat. Foto: Imago/Madeleine Kelly

    Meine Schüler fragen nicht mehr, wann der Krieg zu Ende ist. Die jüngere Generation leidet unter schweren seelischen Belastungen. Ein Beispiel hierfür ist Sofia, deren Bruder an der Front kämpft. Mit ihren 14 Jahren überprüft sie alle 10 Minuten ihr Handy, in der Hoffnung, eine Nachricht von ihm zu erhalten, denn das wäre ein Zeichen dafür, dass er noch am Leben ist.

    In unserer Schule gibt es auch Kinder, die 2022 aus den umkämpften Gebieten Mariupol und Cherson nach Odessa geflohen sind. Die Geschichten, die sie erzählen, sind erschütternd und lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Raketenangriffe, Verletzungen, zerstörte Häuser und der Verlust von Angehörigen sind nur einige der schrecklichen Dinge, die sie erlebt haben.

    Aber in all dem Leid gibt es dennoch Hoffnung: Kinder bleiben Kinder. Trotz der extremen Widrigkeiten lernen sie, immer wieder zu lächeln. Es ist bewegend, ihre Fähigkeit zur Freude zu sehen, trotz der Schatten des Krieges. Wir müssen uns als Gesellschaft bemühen, Unterstützung zu bieten, um diesen Kindern Hoffnung zu geben und ihre Resilienz zu stärken, damit sie trotz der schrecklichen Erfahrungen eine positive Zukunft nach dem Krieg aufbauen können.

    Kleine Schritte im hohen Tempo sind meine Überlebensstrategie. Im Krieg ist das Planen schwierig, aber wenn etwas gelingt, durchströmt mich eine riesige Freude. Vor kurzem konnte ich für ein paar Tage nach Stuttgart fliegen, um an einer Konferenz teilzunehmen. Ich ging durch die Stadt und sah die Menge von Menschen. Das erinnerte mich an meine Heimatstadt vor dem Krieg. Ich sah viele glückliche Gesichter. Das war ansteckend. Aber leider nur für kurze Zeit. Sobald ich wieder in Odessa war, gab es einen Drohnenangriff auf die Stadt. Ich saß im Flur mit meinem unausgepackten Koffer. Und um mich abzulenken, erinnerte ich mich an die schönen Tage in Deutschland. Der Krieg hat mich gelehrt, die kleinen Glücksmomente zu schätzen und im Chaos Ordnung und Stabilität zu finden.

    Ich frage mich oft, wie lange dieser Februar noch dauern wird, wie viele Menschen noch einfrieren werden. Aber in meiner kleinen Welt hier versuche ich, trotz der Kälte das Feuer der Hoffnung am Brennen zu halten. Denn auch wenn der Krieg fortdauert, gibt es immer noch Raum für kleine Triumphe und Zeichen des Lebens.

Olia Fedorova

Die Ukraine ist nun seit zwei Jahren vom Krieg durchzogen, und seit mehr als einem Jahr lebe ich als Flüchtling in Österreich. Die Adrenalinphase jener Monate, in denen ich in Charkiw ums Überleben kämpfte, und der darauf folgende „Adrenalin-Kater“ meines ersten halben Jahrs im Exil sind vorbei.

Die inneren Stürme haben sich gelegt, oder besser gesagt, mein „Schiff“ hat schlussendlich gelernt, im ständigen Seesturm zu leben, und damit hat sich Raum für eine gewisse Selbstreflexion eröffnet.

Ich habe das Gefühl, dass nicht nur ich, sondern viele Ukrainer, vor allem diejenigen im Ausland, aber auch jene, die in einigermaßen sicheren Situationen verblieben sind, in letzter Zeit vermehrt darüber nachdenken, was der Krieg mit uns bis jetzt gemacht hat, wo wir stehen und wie unsere Zukunft aussehen wird. Was bedeutet es, im Jahr 2024 Ukrainerin oder Ukrainer zu sein?

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    Für mich bedeutet es, immer Angst zu haben. Ja, das mag überraschend klingen. In diesen zwei Jahren ist unser Land zu einer Art Synonym für Furchtlosigkeit geworden, mit Symbolfiguren wie einem unbewaffneten Mann, der Panzer aufhält, oder einer Frau, die mit einem Glas eingelegter Tomaten eine Drohne abschießt.

    Auch ich habe die ganze Zeit über versucht, mutig und stark zu wirken und Menschen um mich herum beizustehen, die sich schwach fühlten, und auch Menschen im Ausland zu bestärken, bitte nicht aufzuhören, mein Land in seinem Kampf zu unterstützen. Vor allem aber habe ich versucht, mich nicht verrückt machen zu lassen, mich nicht von der Verzweiflung überwältigen zu lassen und dann in Hilflosigkeit zu erstarren. Früher, vor Beginn des  alles erfassenden Kriegs,  habe ich, wie wahrscheinlich viele Menschen auf der Welt, Angst als etwas sehr einfach zu Erklärendes, Eindeutiges betrachtet; als eine Schwäche, als etwas, das man loswerden muss, um Erfolg zu haben.

    Nach allem, was ich durchgemacht habe, ist mir klar geworden, dass Angst Tausende von Schattierungen hat. Aber egal welche Schattierung, oft glauben wir, uns dafür schämen zu müssen, und so versuchen wir, die Angst zu unterdrücken und vor anderen Menschen zu verbergen.

    Manche mögen vielleicht denken, dass das Eingeständnis – und darüber zu sprechen! – , dass wir Ukrainer tatsächlich Angst haben, SEHR VIEL Angst, für Enttäuschung und Niedergeschlagenheit bei unseren Verbündeten sorgen wird. Sie könnten sagen, dass gerade die ukrainische Furchtlosigkeit, dieser symbolische Mann, der mit bloßen Händen Panzer aufhält, und die symbolische Frau, die eine Drohne mit einem Einmachglas abschießt, die Welt überzeugt haben, die Ukraine zu unterstützen sowie die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges förderten, an den die Wenigsten glaubten. Und jetzt könnten sie sagen, nachdem ans Licht gekommen ist, dass die Ukrainer auch Angst haben, kann die Welt erkennen, dass ihr eigentlich… nur Menschen seid?

    Ukrainische Soldaten tragen den Sarg der gefallenen Sanitäterin Diana Wagner. Foto: Imago/Kaniuka Ruslan

    Ich muss gestehen, dass ich früher genauso dachte. Und wie ist es heute, nachdem die Gegenoffensive, auf die so viele ihre übertriebenen Hoffnungen gesetzt haben, der Ukraine und ihren Verbündeten keinen schnellen und glorreichen Sieg gebracht hat, nach all den Diskussionen darüber, ob es einen Konflikt zwischen unserem Präsidenten und dem Oberbefehlshaber gibt, und ob nicht alle müde sind und nicht mehr kämpfen wollen?

    All das lässt mich manchmal denken, dass die Welt tatsächlich dazu neigt, nur Helden zu unterstützen, nur das „absolut Gute“, das makellos ist und immer gewinnt. Und sobald die Helden scheitern, sobald sie sich abmühen müssen und Fehler machen, sobald sie zeigen, dass sie eigentlich auch Angst haben, verzweifelt sind, die Zuversicht verlieren, da kommen Zweifel auf: Sind sie es überhaupt wert, unterstützt zu werden? Denn bis zu diesem Moment war es so klar, wer auf der „hellen Seite“ und wer auf der „dunklen Seite“ stand, wer die „Elfen“ und wer die „Orks“ waren. Aber jetzt, jetzt ist es nicht mehr so eindeutig? Manchmal hat man das Gefühl, dass es für Helden viel akzeptabler ist, tot zu sein, als „unvollkommen“ oder „schwach“.

    Aber ich denke, dass es in diesen schweren Zeiten, die wir durchleben, wo der Krieg schon so lange andauert und die Euphorie der ersten Erfolge verflogen ist, viel wichtiger ist, die Welt, und auch uns Ukrainer und mich selbst daran zu erinnern, dass wir es nicht mit einem Film oder einer Fernsehserie zu tun haben. Und dass wir alle nur Menschen sind, die vielleicht Angst haben und verzweifelt sind, die nicht ständig die Helden spielen können, um etwas Mitgefühl hervorzurufen. Und die sich manchmal nur wünschen, in Ruhe gelassen zu werden. Aber die es genauso verdienen, zu leben und in ihrem Lebenswillen unterstützt zu werden.

    Und gerade das ist es, was die Ukrainer verteidigen, dieses sehr grundlegende Menschenrecht und diesen sehr einfachen, menschlichen Wunsch zu leben, als Mensch. Und es war natürlich nicht so, dass die Ukrainer nach dem Beginn des Krieges mit einem Schlag alle Angst losgeworden sind oder dass sie überhaupt keine Angst mehr gehabt hätten, sondern es war so, dass die Wut über Russlands Unverschämtheit und die Missachtung unserer legitimen Rechte das Maß an Angst, das jedem Menschen innewohnt, in einem bestimmten Moment überschritten hat.

    Eine der ersten poetischen Botschaften, die ich Tage bevor die ersten Bomben auf meine Heimatstadt fielen, schrieb, war: „Ja, ich habe Angst. Aber ich bin auch verdammt wütend!“ Dieser Satz ist immer noch auf einer Postkarte im Office Ukraine Graz zu finden, ich habe ihn damals direkt aus dem Luftschutzkeller in Charkiw zum Druck geschickt.

    Damals habe ich mich aufs Nachdenken über jene Wut konzentriert, die in dir aufsteigt, wenn deine Menschenrechte verletzt werden, und die dir dabei hilft, für diese Rechte zu kämpfen. Jetzt ist es an der Zeit, auch über die Angst nachzudenken, meine eigene, die meiner Familie, meiner Freunde, meines Volks. Angst, die alle Menschen haben und in der wir uns als Menschen gleich sind.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Krieg und Umwelt: Wenn ich durch die Natur gehe, höre ich ihren stummen Schrei. Die Hinterlassenschaften abgeschossener Drohnen und Raketen, die Granaten der Panzer und der Ausstoß von Abgasen setzen selbst Pflanzen und Bäumen massiv zu. Das alles und noch viel mehr, was der Krieg täglich an Schadstoffen ausstößt, belastet nicht nur die Menschen im Kriegsgebiet. Es macht die gesamte Natur zu unschuldigen Opfern, die sich nicht dagegen wehren können.

An vielen Orten werden die Lebensbedingungen für uns Menschen und auch für die Natur unerträglich. Wasser und Böden werden auf viele Jahre verseucht. Was wird das für langfristige Auswirkungen für unsere Ernährung haben?

Das ukrainische Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen verbreitete kürzlich die Schreckensnachricht, dass bereits 20 Prozent der Schutzgebiete des Landes betroffen sind. Munitionsrückstände, Landminen und sonstige Überreste kriegerischer Handlungen vergiften Böden und Grundwasser mit Schwermetallen und sonstigen Giftstoffen, die Jahrzehnte brauchen, bis sie wieder abgebaut sind.

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    Besonders besorgniserregend ist für mich die Situation der marinen Ökosysteme im Schwarzen Meer, dessen Küsten unsere Stadt schmücken. Nach jedem Angriff auf die Infrastruktur unseres Hafens und der dort vor Anker liegenden Schiffe, kann ich nicht nur die an ihnen angerichteten Schäden sehen, sondern auch, wie sich die Farbe des Wassers durch die ausgelaufen giftigen Substanzen verändert. Ölprodukte spielen dabei eine verheerende Rolle. Sie beeinträchtigen die marine Biozönose. D. h., sie stören den natürlichen Austausch von Energie, Wärme, Feuchtigkeit und Gasen zwischen Meer und Atmosphäre.

    Die Katastrophe spielt sich nicht nur über der Wasseroberfläche ab. Schlimmer scheint es noch darunter zu sein. Kürzlich las ich die alarmierende Meldung, dass bereits 5.000 Delfine im Schwarzen Meer aufgrund dieser Kontaminationen verendet sind. Die Dunkelziffer könnte noch höher liegen, da viele Opfer unbemerkt auf den Meeresgrund sinken. Dieses Massensterben hat nicht nur ökologische, sondern auch emotionale Auswirkungen, auf mich und auf viele Bewohner unserer Stadt.

    Ivan Rusev, ein promovierter Biologe, berichtet von der traurigen Entwicklung, dass das Schwarze Meer, einst voller Leben, nun oft zu einem Friedhof für Delfine wird. Die Strafverfolgungsbehörden in Odessa ermitteln wegen des Massensterbens. Doch ich denke, ihre Rettung kann nur ein Ende des Krieges und der Rückzug der russischen Kriegsschiffe bringen.

    Doch nicht nur das Meer leidet unter den Folgen des Krieges, auch wir, die Einwohner Odessas leiden tagtäglich darunter. Unsere Stadt, einst stolz auf ihre saubere Luft, belegt nun den dritten Platz im Ranking der ukrainischen Städte mit der am stärksten verschmutzten Luft. Die modernen Waffen verursachen nicht nur gigantische Explosionen. Sie enthalten auch eine Vielzahl giftiger Chemikalien. Die Aerosole werden vom Wind viele Kilometer weit getragen und von Menschen selbst in fernen Regionen eingeatmet. Ärzte schlagen Alarm, die Atemwegserkrankungen in Odessa haben sich vervielfacht. Die mit Hunderten Tonnen Treibhausgasen belastete Luft schadet Mensch und Natur und verstärkt zudem rasant den Klimawandel.

    Die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt sind enorm. Foto: Privat

    Panzer und Raketen sind furchterregend, aber ihre unsichtbaren Emissionen sind nicht weniger bedrohlich. Eine aktuelle Studie verdeutlicht, dass Russland in den anderthalb Jahren seines Angriffskriegs gegen die Ukraine, zusätzlich zu seinem normalen Ausstoß, durch den Krieg so viele klimaschädliche Gase freigesetzt hat wie ein industrialisiertes Land wie Belgien in einem ganzen Jahr. Ein internationales Forscherteam unter Leitung von Lennard de Klerk hat etwa 150 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente berechnet. CO₂, durch sie freigesetzt, heizt den Planeten weiter auf. Eine bittere Realität, die den Klimawandel nicht nur beschleunigt, sondern auch neue Dimensionen von Umweltkrisen eröffnet.

    Im Juni 2023 setzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein wichtiges Zeichen, indem er die Gründung einer „High Level Working Group on Environmental Damage of War in Ukraine“ initiierte. Unter der Leitung von Andrij Jermak dem Chef des ukrainischen Präsidialamts, und der schwedischen Politikerin sowie ehemaligen EU-Umweltkommissarin Margot Wallström hat diese Arbeitsgruppe drei zentrale Ziele: die gründliche Untersuchung der entstandenen Schäden, die Suche nach Mitteln, um Russland zur Verantwortung zu ziehen, und die Entwicklung von Ansätzen für einen nachhaltigen, klimafreundlichen Wiederaufbau der Ukraine.

    Die ukrainische Bevölkerung unterstützt uneingeschränkt die Regierung, die sich aktiv dafür einsetzt, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, dass ein Teil der in westlichen Ländern eingefrorenen russischen Vermögenswerte von 300 Milliarden US-Dollar freigegeben wird. Diese Mittel sollen langfristig für den Wiederaufbau und die Beseitigung der Umweltschäden verwendet werden – ein Zeichen der Hoffnung inmitten der dunklen Schatten des Krieges.

    Möge die Stille der leidenden Natur durch die Bemühungen um Heilung und Wiederaufbau durchbrochen werden.