Im Kriegsgebiet | Tagebücher aus der Ukraine

Zhenya Laptii

Wenn mir Menschen mit von Entsetzen erfüllten Augen die Frage stellen: „Wie kannst Du denn bloß dort leben, wo Krieg herrscht?“, gebe ich stets die gleiche Antwort: „Je weiter man sich von der Front entfernt, desto schrecklicher erscheint der Krieg.“
Die Kluft des Unverständnisses zwischen denjenigen Ukrainerinnen und Ukrainern, die gegangen sind, und jenen, die geblieben sind, zwischen Militärs und Zivilistinnen und Zivilisten sowie zwischen denjenigen, die unter der Besatzung leben, und jenen, die das Glück hatten, zu entkommen, wird immer größer.
Das ist unsere Kluft, die wir überbrücken müssen, damit die Ukraine weiterexistieren kann; es ist eine Kluft, die wir überwinden müssen, damit unsere Kinder eines Tages nicht mehr wissen, was Krieg bedeutet.
Aber unsere Kinder tragen inzwischen bereits zu viel Wut in sich, die sich früher oder später ihren Weg nach außen bahnen wird.
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Das Dorf Hussariwka in der Gemeinde Balaklija war früher sehr wohlhabend und prosperierend. Es gab große Bauernhöfe mit 2000 Stück Vieh, endlose Weizen- und Sonnenblumenfelder, und das Dorf schien ein eigenes kleines Fleckchen Erde innerhalb eines großen Landes zu sein, in dem sich jeder Mensch um seine Angelegenheiten kümmerte und sich für die Gemeinschaft einsetzte. Leider hatte ich nicht das Glück, Hussariwka in einem solchen Zustand vorzufinden, wobei ich mir eine wie soeben beschriebene Idylle durchaus vorstellen kann, wenn ich den Geschichten der Einheimischen zuhöre. Jetzt ist Hussariwka eine einzige offene Wunde und übersät mit nicht explodierten Granaten, obwohl das Dorf und seine Umgebung bereits vor dem Umland von Kiew von den russischen Invasoren befreit wurde.
Man könnte also sagen: Hussariwka ist die erste befreite Gemeinde in der Ukraine, und man weiß auch, wie viele ukrainische Soldatinnen und Soldaten hier ihr Leben ließen und wie viele Einheimische getötet und gefoltert wurden, weil sie einfach nur ihre Tiere retten wollten. Eines Abends machten sich einige Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes auf den Weg, um die Kühe zu füttern, die in den abgeschlossenen Ställen vor Hunger brüllten. Sie kehrten nicht zurück. Später fand man ihre verkohlten und enthaupteten Leichen. Man könnte noch viel genauer darüber berichten, denn immerhin gilt es, immer daran denken zu denken, welchen Preis wir für jeden Zentimeter befreites Land zu bezahlen haben.
Ich treffe auf Ehor, einen Burschen von 14 oder 15 Jahren, der stolz mit seinem Moped protzt: „Lass uns mit dem Motorrad fahren“, sagt er fröhlich. Ich setze mich auf den Beifahrersitz, und wir eilen zu den Bauernhöfen, die den ersten Ort auf unserer „Tour der Kriegsspuren“ bilden.
In den zerschossenen Lagerhallen verfault das Getreide. Foto: Privat Als wir uns den Höfen nähern, können wir den Gestank bereits riechen, und die sengende Sonne macht ihn nur noch schlimmer. Die riesigen Getreidehallen ähneln dem Maul eines Wals, der alles um sich herum zu verschlingen scheint, und auch wir begeben uns in den Bauch eines dieser Kolosse. Alles ist undicht und die Wände mit Hunderten von Löchern übersät, durch die das gleißende Sommerlicht in die Halle dringt und ein sonderbares Szenario erzeugt. Über uns scheint sich der Nachthimmel zu erstrecken, doch sind wir in Wirklichkeit in einer Halle und der Gestank hier herinnen ist erdrückend. Tonnen von Getreide, die seit beinahe zwei Jahren verrotten, werden von Karawanen von Mäusen zermahlen. Sie ziehen von einer verfaulten Getreidedüne zur nächsten, ehe sie schließlich an einem noch nie dagewesenen, aber leider verdorbenen Nahrungsüberangebot zugrunde gehen. Zum Gestank des verfaulten Weizens gesellt sich der Gestank von verwestem Fleisch.
Irgendwo zwischen diesen Dünen gibt ein zerbombter Mähdrescher Töne von sich: „Den haben wir vor dem Krieg gekauft“, sagt Ehor. „Wir hatten überhaupt keine alten Geräte; alles war neu und erst kurz zuvor gekauft worden.“
„Wisst ihr noch, wie wir damit gefahren sind?“, ruft Ehor seinen Freunden zu, die gerade mit ihren Mopeds angekommen sind.
„Ja, das war toll.“ Die Kinderschar zieht weiter.
In der Halle wird es still. Nur das Knarren und Knirschen des von der Decke herabhängenden Metalls durchbricht diese unheimliche Stille. Der ausgeweidete Wal, aus dem die Eingeweide hervorquellen, heult sein letztes Lied.
Ich renne den Kindern hinterher.
„Wartet auf mich, ich habe Angst, lasst mich nicht allein.“ Die Kinder sind in einer Stimmung, in der sie auf Abenteuer aus sind, an denen sie mich teilhaben lassen wollen.
„Kommt her, ich zeige euch, wo die Leiche gefunden wurde“, ruft Ehor.
„Hier ist die Leiche gefunden worden.“
„Wessen Leiche?“
„Es war ein Einheimischer. Wir heißen denn bloß diese Leute, die bei Operationen betäuben?“
„Anästhesisten.“
„Ja, genau, er war unterwegs, um Menschen zu helfen, als sein Auto von russischen Soldaten gestoppt wurde, woraufhin er verschwand. Nachdem die Russen vertrieben worden waren, fand man seine Leiche mit Folterspuren. Komm her, ich zeige es dir.“
„Ich will nicht, Ehor. Lass uns von hier weggehen.“
Es tauchen immer mehr Kinder auf.
Eine Gruppe einheimischer Burschen in Hussariwka. Foto: Privat „Ich habe genug von allem hier.“ Ehor beginnt, die Kinder wegzuschicken, und ich bleibe mit dem schüchternsten aller Burschen allein zurück.
„Wie heißt du?“
„Maksym.“
„Nun, Maksym, komm, zeig mir den ‚Walk of Fame'“.
Wir gehen die Straße entlang und sehen von Granaten zerfetzte Bäume und ausgebrannte Militärfahrzeuge. Es waren unsere Fahrzeuge, und hier sind unsere Soldaten gestorben.
„Hier fuhr am 8. März einer unserer BTR-Panzer, und unsere Männer versuchten, eine Frontlinie zu durchbrechen, aber sie scheiterten. Sie wurden getroffen.“
Maksym führt mich zu dem Ort, an dem die ukrainische Fahne weht.
„Hier haben wir sie gefunden, zuerst haben sie Julian getötet; er war noch sehr jung, und dann hat eine Sanitäterin versucht, ihm zu helfen und wurde ebenfalls von einem russischen Scharfschützen erschossen.“
Maksym führt mich zum Denkmal. Wir stehen schweigend da. Ein stummer Schmerz kommt auf, über den sich die Stille legt.
„Was willst du werden?“, frage ich Maksym.
„Soldat. Ich werde nach der neunten Klasse an die Militärakademie gehen, um Soldat zu werden.“
„Und warum?“
„Ich will ihnen den Garaus machen.“
Schmerz …
Zorn …
Wut …
Hass …
Ehor taucht von irgendwoher mit der Kinderschar auf. Manchmal denke ich, dass ich die Heldin aus dem Roman „Herr der Fliegen“ bin und dem Kriegsgott rituell geopfert werden soll.
Die Kinder ziehen weiter, um sich ein Eis zu holen. Ehor tappt im Gebüsch umher:
„Schau, ich habe eine Maschinengewehrpatrone gefunden, hahaha, sie ist noch nicht explodiert!“
„Ehor, lass sie bloß nicht fallen!“, aber darauf hat er nur gewartet.
Der Junge lächelt verschmitzt und wirft die Patrone ins Gebüsch zurück.
„Was für eine Kindheit habt Ihr denn hier? Das muss bestimmt furchtbar sein!“, sage ich zu ihm.
„Es ist die bestmögliche aller Kindheiten!“, lacht Ehor.
Wir ziehen weiter; die Motorräder wirbeln Staub auf, und die Kinder verlieren sich in der dicken, graubraunen Wolke.

Karina Beigelzimer

Die letzten eineinhalb Monate haben mich auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitgenommen. Der September brachte den ersehnten Start des Schuljahres und die Möglichkeit, meine Schüler endlich wieder persönlich zu treffen. Es war ein überwältigendes Gefühl, nach 18 Monaten des Onlineunterrichts endlich wieder direkten Kontakt zu haben.
Trotz der belastenden Raketen- und Drohnenangriffe, die uns oft den Schlaf raubten und uns morgens erschöpft erwachen ließen, empfand ich zum ersten Mal seit Beginn des Krieges echtes Glück. Die Schüler waren die Quelle meiner Kraft und Motivation.
Als Journalistin hatte ich auch viel zu tun, um Reportagen für deutsche Medien vorzubereiten. Doch die Erschöpfung wuchs mit jedem Tag, und während des gesamten Krieges träumte ich von einer kurzen Atempause. Mein Traum erfüllte sich schließlich im Oktober. Doch dieser Traum hat eine Vorgeschichte.
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Im Juni unterzeichneten die Freie Hansestadt Bremen und die Region Odessa eine gemeinsame Absichtserklärung im Bremer Rathaus. Bürgermeister Andreas Bovenschulte sagte: „Unser erklärtes gemeinsames Ziel ist es, eine dauerhafte und lebendige Partnerschaft zwischen Odessa und Bremen aufzubauen.“ Die Oberschule Lerchenstraße äußerte schnell den Wunsch, sich an dieser Städtepartnerschaft zu beteiligen. Meine Kollegin Svitlana Nahorna und ich erhielten eine E-Mail von den deutschen Lehrerinnen Gesine Zeynalov und Sylvette Penning-Hiemstra, die eine Schülerbegegnung planten. Gesagt, getan. Mit Bus, Flugzeugen und Zügen machten wir uns auf den Weg, bis wir schließlich am Bahnhof Bremen-Vegesack ankamen, wo man bereits auf uns wartete. Die Gastfamilien in Bremen öffneten nicht nur ihre Türen, sondern auch ihre Herzen und boten uns weit mehr als nur Unterkunft.
Am ersten Tag waren die meisten Schüler schüchtern, doch das Eis brach schnell. Der Familientag am Sonntag brachte viel Freude: einige besuchten den Zoo, andere gingen ins Schwimmbad, spielten oder grillten, und zwei Familien unternahmen einen Ausflug nach Oldenburg. Svitlana Nahorna und ich wurden von unseren deutschen Gastfamilien ins Theater eingeladen. Ich saß dort und dachte plötzlich: „Hoffentlich gibt es keinen Luftalarm, und wir können das Stück bis zum Ende genießen.“ Dann atmete ich erleichtert aus. Ich war in Deutschland, und hier musste ich nicht während der Vorstellung in den Schutzkeller flüchten. Die Ruhe und Sicherheit, die wir in Bremen erlebten, waren ein unschätzbares Geschenk. Das Fehlen von Ausgangssperren und die Gewissheit, in Sicherheit zu sein, sind für uns nicht selbstverständlich. Manchmal erschraken wir, wenn laute Geräusche zu hören waren oder Feuerwerke gezündet wurden. Am dritten Tag sagte mir die 14-jährige Veronika Lukashkina: „Es macht mich ein wenig nervös, wenn hier in Bremen Flugzeuge fliegen, obwohl ich weiß, dass es normale Passagierflugzeuge sind und keine Raketen.“
Unsere Tagebuchschreiberin reiste mit ihren Schülern nach Bremen. Foto: Privat Einmal im Zug saß ich neben einem Offizier der Bundeswehr, der mir erzählte, dass er ukrainische Soldaten ausbildete. Der Mann war jedoch sehr traurig, weil er gerade die Nachricht erhalten hatte, dass vier ukrainische Brigade-Mitglieder bereits gefallen waren. Beim Aussteigen wünschte er unserer Gruppe viel Kraft und den Sieg.
Während unserer Zeit in Bremen hatten die Schüler die Möglichkeit, an zahlreichen Projekten und Ausflügen teilzunehmen. Sie lernten Trommeln und Tanzen, gestalteten Mosaiken, gingen Bowling spielen und besuchten das Rathaus sowie das Universum-Museum. Gemeinsam unternahmen wir eine Rallye durch Vegesack, erkundeten Bremerhaven und Hamburg. Selbstverständlich gehörte auch der Schulunterricht dazu. „Mir hat besonders gefallen,“ sagte der 16-jährige Mykyta Voitiuk, „dass in dieser Schule für die Oberstufe drei innovative Profile zur Auswahl stehen: Internationales Sportmanagement, Journalismus, Kommunikation und Design. Außerdem war es interessant, am Richtfest teilzunehmen. Im Herbst 2024 ist geplant, dass die Schüler in das neue Gebäude umziehen werden. Danach wird die Renovierung des alten Gebäudes beginnen, und das Ziel ist, dass Alt- und Neubau am Ende nahtlos miteinander verschmelzen.“
Auch Sightseeing stand für die ukrainischen Gäste in der Hansestadt auf dem Programm. Foto: Privat Bremen, die Stadt an der Weser, verzauberte uns mit ihrer Schönheit und ihrem Charme. Die beeindruckende Architektur, die grünen Parks und die freundlichen Menschen hinterließen einen unvergesslichen Eindruck. Diese Reise wird für immer in unseren Herzen bleiben. Sie war nicht nur eine Reise von einem Ort zum anderen, sondern auch eine Reise der Hoffnung, des Zusammenhalts und der Menschlichkeit in einer Welt, die leider oft von Konflikten und Kriegen geprägt ist.
Die deutschen Jugendlichen profitieren ebenfalls von dieser Schülerbegegnung. Azra Oloisik, die die 15-jährige Kateryna Chumakova eine Woche bei sich aufnahm, betont, dass sie viele Themen besprechen konnten und viel über die Ukraine erfahren hat. „Mit jemandem Fremden mein Zuhause zu teilen war eine völlig neue, aber auch wunderbare Erfahrung. Außerdem habe ich gelernt, mich besser mit Menschen zu verständigen, die ich zuvor nicht kannte.“ Die ukrainischen und deutschen Schüler bleiben in Kontakt und hegen die Hoffnung auf Frieden sowie darauf, dass ein Gegenbesuch in absehbarer Zeit möglich sein wird.

Karina Beigelzimer

An einem heißen Augustabend verlasse ich das Kino „Multiplex“ in Odessa. Meine Augen sind feucht von Tränen, die das soeben Erlebte widerspiegeln. Gerade habe ich die Premiere eines beeindruckenden Films miterlebt, der nicht nur die Leinwand erfüllte, sondern auch die Herzen der Zuschauer tief berührte.
Der kreative Geist hinter diesem ergreifenden Werk heißt Kyrylo Naumko, ein Filmemacher von gleichem Alter und ebensolcher Freiheitsliebe wie die Ukraine selbst. 32 werden beide in diesem Jahr. Ich kenne Kyrylo schon sehr lange. Als seine Deutschlehrerin in der Oberschule erkannte ich bereits damals seine Begabung. Die spätere Entscheidung, Germanistik an der Universität zu studieren, erfüllte mich mit großer Freude. Doch Kyrylo war nicht nur sprachlich begabt, sondern besaß auch außerordentliche Kreativität. Während seines Studiums begann er damit, kleine Dokumentarfilme zu produzieren. Durch einen Freund erfuhr er von der renommierten Filmschule ZeLIG in Südtirol. Aber der Weg dorthin war keineswegs einfach. Visaprobleme stellten hohe Hürden dar. Wir schrieben das Jahr 2019, die Ukraine befand sich noch nicht im globalen Fokus. Dennoch gelang es ihm schließlich. Nach der Bewerbung musste er erst ein anspruchsvolles Aufnahmeverfahren erfolgreich absolvieren, bevor er die Zulassung zum Studium erhielt.
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Seinen Diplomfilm wollte er in seiner Heimatstadt Odessa realisieren. Gemeinsam mit Kommilitoninnen verbrachte er sowohl im Sommer als auch im Winter jeweils einen Monat in Odessa, um an diesem Projekt zu arbeiten. Die Dreharbeiten für seinen Film „Dear Odesa / Одеса уві сні“ wurden fünf Tage vor dem Ausbruch des Krieges abgeschlossen, kurz bevor er wieder nach Südtirol zurückkehrte.
Vor der Premiere teilte Kyrylo Naumko mit: „Ich habe erkannt, dass ich Filme erschaffe, um zu kommunizieren – eine Form der Verständigung, die über die Grenzen der Sprache hinausgeht. Das Kino verleiht mir die Möglichkeit, eine weitaus breitere Palette von Emotionen und Gedanken zu vermitteln, als es in Worte gefasst werden könnte. Die Form des Dokumentarfilms verleiht dem Ganzen eine zusätzliche Dimension der Universalität.“
Filmemacher Kyrylo Naumko aus Odessa. Foto: KK Der Film reflektiert nicht nur seine eigenen Gedanken, sondern offenbart auch seine tiefen Gefühle für Odessa. Vor seiner Ausreise nach Italien im Jahr 2019 hatte er sich ernste Gedanken über den Niedergang seiner Heimatstadt gemacht. „Ich trug den Schmerz Odessas in mir. Es schien, als wäre die Stadt irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft gefangen, obwohl sie einst so einzigartig, geliebt und vertraut war.“
Aus diesen Empfindungen heraus entstand der Film „Dear Odesa / Одеса уві сні“. „Ich kehrte damals zurück, um erneut mit meiner Stadt zu sprechen“, erzählt Kyrylo. Wie lebt sein vertrautes Viertel in der Malaya Arnautskaya Straße heute? Existieren die Miesmuscheln am Pier noch, und wie viel Trödel hat Sasha Korol heute auf dem Markt verkauft? Ist Kyrylo endgültig über seine Stadt hinausgewachsen oder wird die Verbindung zu Odessa für immer bestehen bleiben?
„Damals, Anfang Februar 2022“, sagte Kyrylo Naumko, „spürte ich nichts Besonderes, doch umso eindrucksvoller wirken nun die festgehaltenen Szenen der Vor-Kriegs-Realität in Odessa – Frauen feiern ihren Geburtstag am Meer und stoßen mit Gläsern an ‚auf einen friedlichen Himmel!‘. Oder die Mutter, die auf ihrem Balkon raucht und ihrer Tochter sagt, dass sie nicht aus der Ukraine weggehen will, aber dann doch ein Jahr in Deutschland verbringen wird. Die Dreharbeiten für unseren Film wurden am 16. Februar abgeschlossen, die Hauptmontage war für eine Woche später geplant, doch anstelle der Filmmontage brach ein umfassender Krieg aus. Nach den ersten Tagen des Schocks begab ich mich dennoch zur Filmschule und sagte zu Lydia Gasparini, unserer Filmeditorin: ‚Hör mal, ich verstehe wirklich nicht, warum gerade jetzt jemand diesen Film braucht. Du solltest darauf vorbereitet sein, den Film möglicherweise alleine fertigzustellen.‘ Ich erinnere mich an Lydias Gesichtsausdruck – er war ängstlich, aber bereit, sich der Herausforderung zu stellen. In diesem Moment wurde mir klar, dass der Film existieren wird“.
Das Plakat zum Film "Dear Odesa / Одеса уві сні". Foto: KK Nach der Kinovorstellung frage ich Kyrylo, warum er im Herbst 2022 in die Ukraine zurückkehrte, statt im sicheren Südtirol zu bleiben. „Wenn der Mensch, den du am meisten liebst, krank ist, musst du ihm helfen und ihm zur Seite stehen. Genauso ist es, wenn es deinem Land schlecht geht“, antwortet er, „inmitten dieses Krieges ist es mein sehnlichster Wunsch, dass diese Stadt fortbesteht. Odessa, mögest du einfach weiter existieren.“ Mit diesen Worten verabschiedet er sich und fährt nach Kiew, um an einem neuen Film zu arbeiten. Ein weiteres Kapitel in der Geschichte eines talentierten Filmemachers und seiner tiefen Verbindung zur Ukraine.
PS: Der von Kyrylo Naumko, Hannah Hütter und Lydia Gasparini realisierte Film „Dear Odesa / Одеса уві сні“ nahm am Hauptwettbewerb des Internationalen Sole Luna Doc Filmfestivals in Palermo, Italien (3. bis 9. Juli) teil und erhielt dort die Auszeichnung für die beste Filmmontage. Die Begründung lautete wie folgt: „‚Dear Odesa‘ zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie eine durchdachte und sorgfältige Filmmontage ein tiefgreifendes Erlebnis für die Zuschauer schaffen kann, indem sie Stimmen, Momente, Texte und Visionen auswählt. In diesem Film über die Trennung und die Gewalt des Krieges offenbart die Filmmontage, wie das Kino durch Klang und Szene die Stille und Lücken in menschlichen Tragödien ausfüllen kann.“

Zhenya Laptii

Die Hitze kriecht unter meine Schutzweste und fließt wie glühend heißes Wasser meinen Rücken hinunter. Bei den Pfützen auf der kaputten Straße wimmelt es von Tausenden Heuschrecken, die durch den von Autos aufgewirbelten Staub durch die Luft geschleudert werden. Der Staub vermischt sich mit Schweiß, juckt am Körper, gelangt in den Mund und setzt sich mit einem erdigen Geschmack zwischen den Zähnen fest.
Wir fahren weiter nach Süden, näher an die Frontlinie heran. Wir hören einen durchdringenden Knall: Kommt das Geräusch näher, oder entfernt es sich? Es entfernt sich, also kommt das Projektil näher. Aber wir fahren einfach weiter, immer weiter.
Unser gepanzerter Wagen gräbt sich in den kaputten Feldweg ein und pflügt Meter für Meter den Erdboden auf. „Mädels, schaltet eure Handys aus“, ertönt ein Zuruf von den Vordersitzen. Die Männer setzen ihre Helme auf. Wir erreichen die sogenannte graue Zone, bis Wuhledar sind es noch zehn Kilometer.
Am Horizont taucht ein weißer Stollen eines Bergwerksschachtes auf. Einst gab es hier Leben. Jetzt ähnelt das Szenario einer Fata Morgana, deren Konturen langsam verschwimmen und letztendlich verschwinden. „Schaut nach links, da ist Wuhledar, ihr könnt es sehen“, sagen die Männer. Aber unser Fahrzeug biegt nach rechts ab, in Richtung Wodjane.
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Man sagt, dass das letzte Mal im Dezember 2022 Freiwillige hier in Wodjane waren. Das erste Fahrzeug in unserem Konvoi hupt, und wir warten angespannt darauf, was geschehen wird. „Ganz ruhig, er hupt bloß die Leute herbei, denn es gibt hier kein Telefonnetz, und die Leute müssen wissen, dass die humanitäre Hilfe eingetroffen ist“, sagt unser Fahrer.
Wir halten an einem einfachen Dorfhaus. Eine Frau läuft uns entgegen. „Gleich, gleich, ich komme ja schon, und wir werden die Hilfsgüter im Hof abladen“, ruft sie. Uns hat man erlaubt, aus dem Wagen auszusteigen. Während wir im gepanzerten, schwarzen Innenraum unseres Fahrzeuges saßen, konnte uns die Sonne mit ihren sengenden Strahlen nichts anhaben, aber jetzt stehen wir am Rande einer Landstraße, und die Hitze schnürt uns die Atemluft ab. Das Blut pocht in meinen Schläfen; irgendwo werden Raketen abgefeuert.
Der Helm drückt auf meinen Kopf, die Schutzweste gräbt sich in meine Schultern ein. „Wie geht es unseren Leuten am ‚Ground Zero‘? Wie halten sie das bloß durch?“, murmelt meine innere Stimme immer und immer wieder.
Langsam kommen Menschen herbei. Es sind 33, um genau zu sein. Alle, die hiergeblieben sind – alle, die übriggeblieben sind. Wir bringen Medikamente in den Hof eines Hauses; große Rosensträucher breiten sich auf dem Boden aus und lassen erkennen, dass sie schon lange nicht mehr geschnitten worden sind. Der Arzt richtet seinen Arbeitsplatz direkt auf der Terrasse des Hauses ein. Hier wird er seine Patienten empfangen. Draußen vor dem Tor hat sich bereits eine kleinere Menschenmenge versammelt, die zum Arzt will. „Wer ist der Erste?“, ertönt die Stimme des Arztes. „Ich!“, ruft eine Frau. Was sie weiter sagt, geht im neuerlichen Raketendonner unter.
Bilder der Zerstörung in Frontnähe. Foto: Zhenya Laptii Ich gehe im Hof herum. Ein Ziehbrunnen, ein weiterer Rosenstrauch, ein von Trümmern leicht ramponierter Gartenzwerg, eine zerstörte Gartenlaube … Wenn man sich vorstellt, wie es hier früher einmal ausgesehen haben dürfte, wirkt der Hof erstaunlich gemütlich, fast wie einem Märchen entsprungen. So irgendwie will das gar nicht zum deprimierenden Bild des Donbas passen, das sich in meinem Innersten breitgemacht hat.
Ein neuer Patient kommt zum Arzt. Er humpelt. „Ich habe Kopfschmerzen, und meine Mutter ist gestorben; ich habe sie letztes Jahr selbst beerdigt. Können Sie mir einen Totenschein ausstellen?“, sagt der Mann. Mein Blut gefriert mir in den Adern. „Wo haben Sie sie begraben? Ist sie eines natürlichen Todes gestorben?“, fragt der Arzt. „Ja, sie hat den Krieg nicht mehr ausgehalten. Ich habe sie in der Nähe meines Hauses begraben“, antwortet der Mann.
Der Arzt seufzt: „Eine Sterbeurkunde kann ich nicht ausstellen. Dafür bedarf es einer Exhumierung und bestimmter Dokumente. Wie soll ich das alles hier für dich bewerkstelligen?“, sagt der Arzt. Er zeigt auf einen stämmigen Mann in Schutzweste. „Geh zu Andrij, er ist von der Polizei, er kann dir helfen.“ Dann gibt er seinem Patienten noch ein Päckchen mit Tabletten gegen Kopfschmerzen mit.
Schon monatelang sollen keine Hilfslieferungen mehr nach Wodjane gekommen sein. Foto: Zhenya Laptii Ich gehe auf den Hof hinaus, wo die humanitären Güter verteilt werden. Es sind mehrheitlich ältere Menschen, die im Dorf zurückgeblieben sind. Aber mitten unter den faltig-zerfurchten Gesichtern bemerke ich auch ein sehr junges. Es gehört einem Mann von etwa 20 Jahren. Er ist mit seiner Mutter aus Wuhledar gekommen, als es unerträglich wurde, stets den Bombardements ausgesetzt zu sein.
Andrij spricht ihn an, um ihn zu überreden, mit uns zu kommen, denn für den jungen Mann namens Sascha gibt es hier nichts zu tun. Sascha hat sein ganzes Leben noch vor sich, hier gibt es keinen Strom, kein Wasser, sondern nur andauernden Beschuss.
Die Menschen kommen mit Schubkarren, Fahrrädern und sonstigen Transportgeräten, um die Hilfsgüter zu verladen. Dann machen sie sich, beladen mit Lebensmitteln und Wasser, auf den Weg zurück zu ihren Häusern.
Auch für uns ist es Zeit, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Wir steigen in den Wagen, dessen schwarze Panzerung die Sonne von uns fernhält. Es wird uns leichter zumute. Plötzlich kommt ein großer, zotteliger Hund, den alle hier Roy rufen, auf unser Fahrzeug zu, steigt ohne zu zögern ein und verdrängt mich von meinem Sitz. Irgendwie scheint Roy zu spüren und zu wissen, dass wir ihn von den ständigen Bombardements wegbringen können.
Rustem, einer der Männer, die mit uns unterwegs sind, nähert sich unserem Wagen, sieht Roy und fordert ihn auf, auszusteigen, aber der will nicht. Als Andrij Roy erblickt, scheint es, als hätte der zottelige Hund, der nicht und nicht aus dem Wagen will, tatsächlich eine Chance mitzukommen. „Wenn du so stur bist, dann nehmen wir dich eben mit“, sagt Andrij und winkt dem Hund zu. Doch Rustem bleibt hart. „Nein, wir werden Roy nicht mitnehmen“, sagt er. „Der Hund gehört jemand anderen, er gehört zu einem Haus.“
Als Rustem dem Hund mit lauter Stimme befiehlt, auszusteigen, gibt sich dieser schließlich geschlagen. Sein flauschiger Schwanz gleitet langsam und niedergeschlagen aus dem Wagen. Hinter Roy schließt sich die schwere gepanzerte Tür.
Wir fahren nun nach Hause, nach Kurachowe. Morgen werden wir ein neues Dorf an der Frontlinie besuchen, wo andere Menschen auf unsere Hilfe warten werden.

Olia Fedorova

Eine weitere große Tragödie für die Ukrainer im Zuge dieses alles umfassenden Kriegs ist der unterbundene Zugang zu Hunderten Quadratkilometern Land für Gärten, Obstgärten und Felder. Die Ukraine hat seit jeher einen außergewöhnlich fruchtbaren Boden, „Chornozem“, schwarze Erde, von der gesagt wird, dass man einen Stock hineinstecken kann und dieser Stock wird dann bald blühen. Es wird berichtet, dass die Nazis während der Besatzung Waggonladungen mit ukrainischem Chornozem nach Deutschland brachten. Eine weitere bekannte Tatsache ist, dass die Ukraine jahrzehntelang die halbe Welt mit ihren landwirtschaftlichen Produkten, allen voran Getreide, versorgte.
Demnach ist es kein Wunder, dass es in der Ukraine immer viele Menschen gab, die mit dem Boden aufgewachsen sind und alles darüber wussten und ihr Wissen und ihre Fertigkeiten in der Landwirtschaft über Generationen weitergaben. Sie haben eine ganz spezifische Kultur weitergegeben, die auf Liebe für und Respekt gegenüber der Natur beruht, aber vor allem auf dem Gefühl der Zugehörigkeit und dem festen Willen, das kleine Stück Land, mit dem man verwurzelt ist, sowohl zu schützen als auch zu entwickeln.
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Meine Großeltern Vira und Serhiy stammten aus typischen ostukrainischen Familien. Sie kamen in kleinen Dörfern zur Welt, wo jeder entweder mit Pflanzen oder mit Tieren arbeitete, und gehörten zur ersten Generation, die in die Großstadt zog. Aber sie waren immer bestrebt, die Verbindung zum Erdboden nicht zu verlieren, und erst vor 13 Jahren ist es ihnen gelungen, ein eigenes Stück Land in einem Dorf zu erwerben, eine Autostunde von Charkiw entfernt. Sie haben dort ein kleines Haus mit einem großes Grund zur Gartenarbeit, unmittelbar vor ihren Toren begann der Acker. Dort konnten sie ihrer Leidenschaft für das Pflanzen, Aufziehen und Ernten nachgehen. Ehrlich gesagt hatte meine Oma Vira schon immer einen grünen Daumen, selbst scheinbar abgestorbene Blumen konnten unter ihren Händen wieder aufblühen. Und Opa Serhiy war mit seinem Ingenieursgeist für die gesamte Infrastruktur zuständig, sodass seine Frau ihre „Magie“ effektiv anwenden konnte.
Unnötig zu erwähnen, dass sie in diesen Jahren viel Energie in ihr Dorfhaus, ihre Datscha, gesteckt haben. Es war viel Arbeit, aber sie freuten sich immer außerordentlich, wenn der Frühling kam und sie wieder hinfahren konnten. Jedes Jahr im Sommer brachten sie uns kiloweise frische Tomaten, Paprika, Gurken und Beeren, die schmackhaftesten, die man sich vorstellen kann. Sie konservierten das Gemüse, froren die Beeren ein und kochten Marmelade, damit die Familie den ganzen Winter über mit Vitaminen versorgt wäre. Manchmal war die Ernte so reich, dass sie Gemüse und Obst an ihre Freunde verschenkten, und einige Male verkaufte mein Großvater sogar auf dem örtlichen Markt. Ich habe nie einen glücklicheren Menschen gesehen als meine Großmutter, die allen ihre Blumen und Bäume zeigte und über neue Rosensorten sprach, die sie im nächsten Jahr zu pflanzen beabsichtigte.
Getreideernte in der Region Kiew. Foto: AFP/Sergei Supinsky 2022 überfiel Russland die Ukraine, und das Gebiet, in dem meine Großeltern ihr Haus und den Garten hatten, wurde besetzt. Glücklicherweise ist die Gegend, in der sich alle Datschen befanden, etwas entfernt vom Hauptort, es gibt dort keine gute Straße oder sonstige Infrastruktur, die die Aufmerksamkeit der Besatzer auf sich ziehen würde. Es sind also nie russische Soldaten dorthin gekommen, aber das Gebiet war völlig von der Zivilisation abgeschnitten, es gab keinen Strom und somit auch keine Möglichkeit, Trinkwasser aus den Brunnen zu pumpen. Und natürlich gab es weder einen Zugang für Menschen von außerhalb noch einen Ausweg für diejenigen, die in ihren Datschen überwintert hatten. Es war Frühling, die Zeit, in der meine Großeltern normalerweise in ihre Datscha gefahren wären und mit der Gartenarbeit begonnen hätten, aber in diesem Frühjahr war das unmöglich, was sie sehr bedrückte.
Obwohl das Gebiet Anfang Mai 2022 befreit wurde, riet man den Menschen dringend davon ab, hinzufahren, da das Land vermint sein könnte und die Kämpfe in der Nähe noch andauerten. Erst im nächsten Frühjahr, im April 2023, gelang es meinen Großeltern endlich, ihr Dorfhaus und den Garten zu besuchen. Was sie dort sahen, war erschütternd. Das Unkraut bedeckte die ehemals fein säuberlichen Gemüsebeete, es war fast brusthoch. Die Früchte wie Kirschen, Zwetschgen und Äpfel, die im letzten Sommer von den Bäumen auf den Boden gefallen und nie geerntet worden waren, wuchsen überall im Garten zu neuen Bäumchen heran, und zwar an Stellen, wo sie ganz offensichtlich nicht sein sollten.
Das Traurigste war, dass mein Großvater vor der Invasion, als die Datscha-Saison zu Ende ging, wie immer die Bäume und Sträucher mit Textilien umwickelt hatte, um sie vor der Kälte und den Wildkaninchen zu schützen. Es gab niemanden, der sie im Frühjahr auspacken konnte, und so blieben die Pflanzen mehr als ein Jahr lang eingehüllt. Viele gingen leider ein. Andere entwickelten neue Triebe, manche davon konnten die Hülle durchbrechen, sonst mussten sich auf engstem Raum entwickeln, sodass sie sich verformten und nun wie unheimliche krumme Äste in einem dunklen Gruselwald aussahen. Das Feld vor dem Garten war voller ausgetrockneter Sonnenblumen, sie befanden sich dort seit der Saison 2021, weil während der Besetzung niemand das Feld erreichen konnte, um sie zu entfernen und den Boden aufzubereiten.
Landminen in der Region Saporischschja. Foto: Imago/Dmytro Smolienko Bevor die Großeltern kommen konnten wurde das Gebiet auf Minen hin untersucht, aber meistens nur die Wohnbereiche, die Felder nicht. Dass das Gebiet geräumt worden war bedeutete also nicht, dass dort keine Minen auftauchen würden. Kürzlich wurde außerdem von Fällen in der Region Charkiw berichtet, in denen Krähen und Elstern, angezogen vom metallischen Glanz, kleine „Schmetterlingsminen“ vom Boden aufpickten, diese kilometerweit verschleppten und in anderen Gebieten abwarfen, selbst an Orten, die als völlig sicher galten.
Meine Großeltern arbeiten nun schon seit mehreren Monaten wieder in ihrem Garten und versuchen wiederherzustellen, was Russland nach so vielen Jahren harter Arbeit zerstört hatte. Dennoch meinen sie, dass es besser ist, alles fast von neuem aufzubauen, als nie wieder an diesen Ort kommen zu können. Trotz der unsicheren Zeiten und ihres Alters, das ihre Möglichkeiten natürlich einschränkt, haben meine Oma Vira und mein Opa Serhiy Hoffnung und den Willen, ihren Garten wieder zum Blühen zu bringen. Ich freute mich, als sie mir Fotos ihrer ersten Ernte nach der Invasion schickten: ein Stapel Gurken und drei riesige rote Erdbeeren.
Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Die vergangene Woche war eine Zeit des Schreckens und der Verzweiflung für Odessa. Meine Nächte waren von Angst und schlaflosen Stunden geprägt. Die grausamen Angriffe waren die schlimmsten, die die Stadt seit Beginn des Krieges erlebt hatte. Das laute Dröhnen der herannahenden Raketen hallte durch die Straßen und erfüllte die Luft mit düsteren Vorahnungen.
Russland setzte gnadenlos Drohnen und verschiedene Arten von Marschflugkörpern ein, die einen unvorstellbaren Schrecken in die Herzen der Menschen jagten. Besonders gefürchtet waren die Raketen „Oniks“ und „X-22“, die wie düstere Schatten über der Stadt schwebten und als nahezu unangreifbar galten.
Die Angst vor dem nächsten verheerenden Angriff ließ die Menschen in ständiger Anspannung leben. Besorgniserregend war zudem die synchronisierte Abschussmethode in Kombination mit Raketen des Typs „Kalibr“. Dies legt nahe, dass Russland eine neue taktische Strategie anwendet oder versucht, den Luftverteidigungssystemen der Region maximal entgegenzuwirken.
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Die Verklärungskathedrale, einst ein stolzes Zeichen des Glaubens und der Hoffnung, ist nun schwer beschädigt. Ebenso erging es einigen Museen, Schulen, Kindergärten, Verwaltungsgebäuden, Konsulaten und Wohnhäusern, die allesamt durch die zerstörerischen Kräfte der Raketen gezeichnet sind. Die Liste der Beschädigungen ist lang und erzählt von einem Ausmaß der Zerstörung, das kaum in Worte zu fassen ist. Besonders schwer traf es auch die Häfen von Odessa und Tschernomorsk, die einst wichtige Knotenpunkte für den Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer waren. Etwa 60.000 Tonnen Getreide wurden vernichtet, und die Hafeninfrastruktur wurde beschädigt. Der Hafen von Odessa ist nicht nur für die Ukraine von großer Bedeutung, sondern auch für viele Staaten der Welt, die auf die Lieferung von Getreide angewiesen sind. Wenn dies nicht mehr möglich ist, drohen in ärmeren Ländern Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöte. Mit den schrecklichen Angriffen auf die Region Odessa versucht die russische Regierung, die Wiederherstellung des „Getreidekorridors“ zu verhindern.
Die schwer beschädigte Verklärungskathedrale von Odessa. Foto: Privat Das Stadtzentrum von Odessa, einst ein pulsierender Ort kultureller Vielfalt und Schönheit, ist heute von Trauer und Verwüstung gezeichnet. Wenn ich durch die Straßen schlendere, überkommt mich ein Gefühl tiefer Melancholie. Die Narben des Krieges sind allgegenwärtig. Während ich durch die Trümmer eines Gebäudes wandere, treffe ich auf eine Frau, die neben den Überresten ihres Hauses steht. Tränen fließen über ihre Wangen. Sie hat alles verloren, nur ihren Hund konnte sie inmitten des Chaos retten. Ihr Schicksal ist nur eines von vielen, das ich in dieser dunklen Zeit sehe. Die „Russische Welt“ hat sie von ihrem Hab und Gut „befreit“, und zurück bleibt nur Leid und Verzweiflung.
In dieser schwierigen Zeit rücken die Menschen von Odessa enger zusammen. Sie stehen einander bei, helfen beim Aufräumen der Trümmer und unterstützen diejenigen, die alles verloren haben.
Jede Person, die vom Krieg betroffen ist, hat ihre eigene einzigartige Erfahrung und jeder reagiert anders darauf. Gestern habe ich auf Facebook gesehen, wie die ukrainische Journalistin Yulia Gorodetska ein Foto mit rotem Lippenstift gepostet und geschrieben hat, dass Russland niemals Odessa erobern wird. Danach sind dutzende Fotos von jungen Frauen mit rotem Lippenstift im Netz aufgetaucht. Der Lippenstift dient dabei als Symbol – die Waffe der Frauen. Es ist ein Protest gegen den Krieg und den Terror Russlands, ein Zeichen dafür, dass das Gute und die Schönheit das Böse und den Terror besiegen werden. Die Zivilbevölkerung bleibt stark, doch die Wunden, die dieser Krieg hinterlässt, werden noch lange schmerzen.

Karina Beigelzimer

Der Duft des Sommers liegt in der Luft. Früher war der Juli in Odessa von einer gewissen Leichtigkeit geprägt. Das hatte Auswirkungen auf den Tourismus. Er machte die Stadt bunter und bescherte zugleich zahlreichen OdessitInnen Arbeit und Einkommen. Über vier Millionen Touristen besuchten 2021 unsere wunderschöne Stadt am Schwarzen Meer.
Nun bleiben die meisten Gäste weg. Fast alle Hotels kämpfen mit niedrigen Belegungszahlen. Einige werben aber dennoch um Gäste, auch über die sozialen Medien. Sie versuchen Influencer anzusprechen. Da der Strand nicht zugänglich ist, werben sie z.B. mit ihrem Pool. Auch das vor kurzem eröffnete internationale Kulturzentrum UNION in Odessa lockt Gäste mit verschiedenen interessanten Ausstellungen, Lesungen und Konzerten.
Ganz brach liegt der Tourismus in der Ukraine aber doch nicht. Der Inlandstourismus erholt sich allmählich. Es gibt sogar Ukrainer, die sich eine kleine Auszeit vom Krieg nehmen und innerhalb des Landes in touristische Gebiete fahren, die als sicherer gelten als z. B. die Ostukraine. Für sie, die in Kriegsgebieten unter Dauerstress leben, kann es durchaus eine Erholung und eine körperliche und psychische Stärkung sein, ein paar Tage in Odessa oder in den Karpaten abzuschalten.
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Aber hin und wieder sehe ich in meiner Stadt sogar ausländische Touristen, und ich wundere mich immer wieder, aus welchem Grund sie das Risiko eingehen, in ein Land zu fahren, dass sich im Kriegszustand befindet.
So wie z.B. Künstler Harald Allf aus Leipzig, den ich vor ein paar Wochen in Odessa traf. Er ist Mitglied im Leipziger Verein „Ukraine Kontakt“ und und plant eine Ausstellung mit der Kiewer Künstlerin Olseya Dzhuraeva in der Leipziger Galerie. Das waren für ihn ausreichend Gründe, eine Reise in die Ukraine anzutreten.
Wir spazierten durch die Stadt, die in der Nacht zuvor einen Raketenangriff erlebt hatte. Harald war aber ruhig. „Wenn meine sicherheitsbewussten Mitbürger daheim mich vorwurfsvoll fragen, wie man sich dem Risiko einer solchen Reise aussetzen kann“, erzählte mir der Künstler aus Leipzig, „kann ich nur antworten, wenn meine ukrainischen Freunde und das gesamte ukrainische Volk dieses seit nunmehr über 16 Monate erleben müssen, dann werde ich das wohl auch für ein paar Tage können.“
Weil der Flugverkehr eingestellt ist, musste Harald mit dem Bus fahren, mit kurzen Aufenthalten in Breslau und Krakau. Die Formalitäten an der polnisch-ukrainischen Grenze waren langwierig. Zweimal wurden die Pässe sämtlicher Buspassagiere eingesammelt, angeschaut und wieder ausgeteilt. Die Abfertigung dauerte Stunden. Im Morgengrauen dann rollte der Bus über die Grenze. Die Folgen des Krieges waren schon auf der Fahrt nach Kiew entlang der Straße deutlich sichtbar: einzelne ausgebrannte Häuser, eine völlig zerstörte Lagerhalle, Checkpoints und Panzersperren …
Stimmungsbild aus Odessa: Ein Mann und ein Bub mit Badehose, im Hintergrund ein Getreide-Frachter. Foto: Imago/Yulii Zozulia Nach der Ankunft auf dem Zentralen Autobusbahnhof in Kiew ließ sich Harald von der Atmosphäre der Großstadt einfangen: Architektur, Verkehr, der Reiz des Unbekannten. Immer wieder sind die ersten Momente in einer fremden Stadt von belebender Intensität, selbst nach einer Nacht mit wenig Schlaf im Reisebus.
Am nächsten Tag stand er zusammen mit seinem ukrainischen Freund vor einem Flachbau im Nordwesten Kiews. Auf der anderen Seite der sechsspurigen Straße befindet sich jener Fernsehturm, der am 1. März 2022 von einem russischen Marschflugkörper getroffen und von einem weiteren knapp verfehlt wurde. Der zweite tötete fünf Menschen und setzte das Gebäude, in dem sich ein Sportzentrum befand, in Brand. Von den früheren sportlichen Aktivitäten zeugen noch die verkohlten Skelette einiger Fitnessgeräte, die als Zeugen der Zerstörung im Raum belassen wurden.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der für Harald erste Luftalarm in Kiew in dem Augenblick ertönte, als er die spektakuläre Aussicht von der Glasbrücke im Volodymyrskiy-Park erlebte. Diesen Moment beschreibt Harald Allf so: „Das war für mich so etwas wie ein Schlüsselmoment der Reise: da war der Sommerabend, da war der Panoramablick, nicht nur über die Stadt, sondern über den Dnipro weit ins Land. Da waren die Musik und die Menschen: ruhig, von der Bedrohung unbeeindruckt. Das Leben, die Schönheit und die Kunst waren in diesem Moment zwischen Himmel und Erde vollkommen furchtlos.“
Nach Odessa ging es im Liegewagen mit dem Nachtzug. Am sommerlichen Sonntagmorgen schien die Stadt noch im Tiefschlaf zu liegen. „In dieser Ruhe“, so Alff, „kommt die bescheidene Eleganz der baumbestandenen Straßen mit ihren relativ niedrigen Häusern ganz unmittelbar zur Geltung. Bevor man zum -momentan ab gesperrten- Hafengelände kommt, stößt man auf die Oper in ihrer ganzen neobarocken Pracht. Auch wenn mir der Vergleich fehlt, aber es ist zu spüren, dass der Energiefluss dieser Stadt blockiert ist. Das Schwarze Meer ist zwar noch da, jedoch stehen die Kräne des Frachthafens still. Und das sonst so klare Wasser ist bräunlich und vom Kachowka-Desaster wahrscheinlich kontaminiert, sodass die Strände menschenleer sind. Alles auf Standby.“
Die Stimmung in dem Bus, mit dem der Künstler aus Leipzig ein paar Tage später von Lwiw (Lemberg) nach Krakau zurückfuhr, schilderte er als gedrückt. Alle wirkten sehr erschöpft. Man spürte, so schrieb er mir, dass diese Menschen sich nicht auf eine freiwillige Reise begeben hatten.
Dennoch ist Alff sich sicher, dass er wieder in die Ukraine kommt und dass unser Land nach dem Krieg wieder Millionen von Touristen beherbergen wird.

Karina Beigelzimer

Es war ungefähr 2.30 Uhr, als es wieder Fliegeralarm gab – nur zwei, drei Minuten später gab es solche Explosionen, dass das Haus wackelte und zitterte. Und ich konnte zuerst gar nicht verstehen, was passiert ist, weil das alles sehr nah war. Es waren russische Marschflugkörper, Ziel der Attacke war ein Business-Center im Zentrum der Stadt, keine 1,5 Kilometer von unserem Haus entfernt. Dort gibt es viele Geschäfte und Büros, dort ist aber auch ein Museum für Kinder untergebracht. Was passiert ist, erfahren wir über die offiziellen Telegram-Kanäle.
Meine Mutter erholt sich nach einer sehr schweren Operation im Mai, ich kümmere mich um sie und versuchte sie in dieser Nacht zu trösten. Schon wenige Tage zuvor gab es nach einem russischen Angriff Explosionen, Tote und Verletzte. All diese schlaflosen Nächte. Ich verstehe, dass ich aufstehen muss, aber ich kann es nicht. Die letzten Monate haben mich sehr erschöpft. Ich habe versucht, das zu verstecken, aber meine Augenringe verraten das. Ich schalte auf Energiemodus. Die letzten Wochen sind voller Last, und die Nächte bringen mir keine Erholung.
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Russland setzt auf Terror und auf Zermürbungstaktik: Raketenangriffe in der Nacht – das erzeugt bei vielen von uns psychische Belastungen: Angst und Depression, Schmerzen und Schlafstörungen. Es ist, als wären wir im falschen Film oder würden gerade aus einem Alptraum erwachen. Nur leider ist es kein Alptraum, sondern schreckliche Realität. Ich versuche irgendwo noch Kraft zu tanken, aber das gelingt mir nicht immer. Manchmal sitze ich verzweifelt und weiß nicht, wie ich das alles aushalten kann.
Ich habe das Gefühl, ich halte mich im Wartezimmer des Lebens auf: Jeder Tag bringt eine weitere Dosis Unsicherheit mit sich, und wir sind gezwungen, in ständiger Alarmbereitschaft zu leben. Aber dieses Wartezimmer des Lebens ist auch ein Ort der Prüfung. Während wir hier warten, werden wir mit den tiefsten Abgründen unserer Existenz konfrontiert. Wir müssen unsere Ängste überwinden, unsere Menschlichkeit bewahren und uns den widrigsten Umständen stellen. Es ist eine Zeit, in der wir unsere inneren Ressourcen mobilisieren und uns mit dem Unvorstellbaren auseinandersetzen müssen.
Ein Radfahrer vor einem beim Raketenangriff am 14. Juni 2023 beschädigten Business-Gebäude in Odessa. Foto: APA/AFP/Oleksandr Gimanov Das Bemerkenswerte am Leben in Odessa während des Kriegs ist Optimismus. Aufgeben? Keine Option! Und so nehmen wir selbst den Horror des Krieges mit Humor: Jede Woche, jeder Tag, den wir weiterleben, ist wie ein Geburtstag. Dank der Russen hat darum jeder Mensch in der Ukraine jetzt 365 Mal im Jahr Geburtstag.
Eigentlich kann man sich an den Krieg nicht gewöhnen, es geschieht aber trotzdem. Denn wenn man es nicht schafft, sich anzupassen, überlebt man das alles nicht. Ich meine auch psychisch. Die Einwohner der Stadt versuchen ein Maß an Normalität und sogar einige alltägliche Freuden wiederzufinden. Trotz aller Einschränkungen sollen die Leute doch wenigstens einmal abschalten können, Musik hören, Ballett genießen. Konzerte und Theater kann man wieder besuchen. Auch das Opernhaus hält sein Kulturangebot aufrecht. Wenn Sirenen ertönen, wird die Vorstellung abgebrochen, die Zuschauer haben dann die Wahl, das Gebäude zu verlassen oder in den Kellern unter dem Theater Zuflucht zu suchen.
Auch Cafés im Stadtzentrum und am Meer sind wieder voll. Viele, die im letzten Jahr Odessa verlassen haben, sind zurückgekommen, außerdem gibt es in der Stadt 140.000 Flüchtlinge (inoffiziell etwa 300.000). Einige fragen mich: „Was, es ist Krieg und die Ukrainer gehen spazieren, sitzen und trinken Kaffee?“ Meine Reaktion darauf ist: Was soll das? Ihr müsstet doch froh sein, dass sich die Menschen hier noch ablenken können. Es ist ja nicht so, dass wir uns der Gefahr nicht bewusst wären, jederzeit Opfer eines Raketenangriffs werden zu können. Wir wollen aber, wenn auch nur ein winzig kleines Stück, Normalität zurück!
Ich bin aber gegen laute Partys, die manchmal in den Strandclubs stattfinden, weil das überhaupt nicht zur Zeit passt. Jeden Tag sterben Soldaten und Zivilisten in unserem Land. Manchmal habe ich Angst, Facebook zu lesen – dort finde ich so viele Traueranzeigen.
Tod und Leben inmitten der Dunkelheit des Krieges. Jeder Moment des Glücks ist kostbar und wiegt jetzt wie ein Kilo Gold. Und wir alle sind entschlossen, unser Bestes zu geben, um die Last des Krieges zu erleichtern und den Feind zu besiegen.

Olia Fedorova

Mehr als ein Jahr ist der Krieg in vollem Gange. Mehr als ein Jahr, in dem wir das wahre Gesicht der russischen Armee erkannt haben, als Butscha, Irpin, Borodianka und andere Städte entokkupiert wurden. Die Ukraine hat den dunkelsten Herbst und Winter überstanden. Der Frühling ist eingekehrt, Licht und Wärme sind auch in die ukrainischen Städte zurückgekommen. Es sind so viele Dinge passiert, dass es für ein ganzes Menschenleben reicht. Diejenigen von uns, die das Glück hatten, es bis hierher zu schaffen, sind nicht mehr dieselben wie vorher. Aber wer sind wir jetzt?
Wir sind diejenigen, die es verlernt haben, Pläne für mehr als einen Monat im Voraus zu machen. So viele Pläne wurden in einem einzigen Moment am 24. Februar zerstört, das Leben so vieler Menschen wurde komplett umgekrempelt. Wir fanden uns an Orten wieder, von denen wir nie dachten, dass wir sie aufsuchen würden, und taten Dinge, von denen wir nie vermuteten, dass wir sie tun würden.
Der bloße Versuch, die Zukunft vorherzusagen oder etwas im Voraus zu planen, funktioniert nicht. Sie können kein Haus kaufen, renovieren oder einrichten, weil sie nicht sicher sein können, ob es nicht schon morgen von einer russischen Rakete zerstört wird, selbst wenn sie im westlichen Teil der Ukraine leben. Sie können sich kaum mit einem Menschen anfreunden, weil er morgen vielleicht an einen anderen Ort geht oder getötet wird – oder das Gleiche kann ihnen selbst passieren. Sie können auch keine langfristigen Ersparnisse anlegen oder große Investitionen tätigen, weil sie das Geld vielleicht schon morgen für einen Stromgenerator, ein Fahrzeug für ihren Freund an der Front oder für eine Notfallevakuierung brauchen. Dies führt einzig und allein zu völliger Verunsicherung und Frustration.
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Zugleich kann es aber auch genau das Gegenteil bedingen – wenn Planung sinnlos geworden ist, wenn jeder nächste Tag der letzte sein kann, warum sollten sie sich dann in diesem Leben überhaupt einschränken? Es gibt in der Ukraine Menschen, die buchstäblich gerade ihre besten Momente erleben: Sie heiraten, werden Eltern, adoptieren Haustiere, renovieren ihre Wohnungen und kaufen Dinge, von denen sie schon immer geträumt haben, auch wenn sie ihr letztes Geld dafür ausgeben müssen. Sie führen Aktionen durch und setzen Ideen um, die sie bisher aufgeschoben haben. Heutzutage ist in Charkiw jedes Konzert, jede Ausstellung oder jede andere öffentliche Veranstaltung immer „ausverkauft“, die Einkaufszentren sind überfüllt, und in den Restaurants gibt es selten leere Tische. Das Leben in der Ukraine und insbesondere in Charkiw erscheint so ambivalent – erstarrt in Frustration und Ungewissheit und gleichzeitig voller Energie, auf Hochtouren lebend, um jeden möglichen Moment zu erhaschen, um alles aus diesem extrem fragilen und kurzen Leben herauszuholen.
Wir sind diejenigen, die nichts mehr für selbstverständlich halten und sich über die kleinsten Dinge freuen. Ich kenne niemanden, der glücklicher war als die Bürger von Charkiw, als nach einem Jahr völliger Verdunkelung die ersten Lichter in den Straßen der Stadt wieder eingeschaltet wurden.
Diese schlecht beleuchteten Straßen, über die wir uns vor dem Krieg bei der Stadtverwaltung beschwert hatten, schienen hundertmal heller zu sein, als der Times Square. Und das Vergnügen, nach Tagen ohne Wasserversorgung in der Wohnung ein langes, heißes Bad zu nehmen, ist hundertmal besser, als es im luxuriösesten Thermalbad je sein kann. Meine Mutter weinte kürzlich fast vor Glück, als sie zum ersten Mal in Charkiw wieder in einem Stau steckte, was sie vor dem Krieg natürlich sehr geärgert hätte, denn es bedeutete, dass die Stadt wieder zum Leben erwacht.
Zerstörtes Wegzeichen bei Charkiw - Buchstaben aus Metall, die den Namen der Stadt bilden. Foto: Privat Wir sind diejenigen, die für immer traumatisiert sind. In all unseren Gesprächen kommen wir irgendwann auf das Thema Krieg, Evakuierung, Besatzung, Bombardierungen und Gräueltaten zu sprechen. Wenn ich Menschen im Ausland von irgendetwas erzähle, von irgendeinem Teil meines Lebens oder irgendeiner anderen Person, dann kommen immer die Worten vor „und nach der Invasion hat er/sie/es …“. Wenn ich über mein eigenes Vorkriegsleben spreche, ist es so, als würde ich über das Leben einer anderen Person sprechen, etwas aus einer anderen Realität. Selbst wenn wir gar nicht reden – unser Schweigen ist auch ein Schweigen über den Krieg. Es ist ganz angenehm, wenn man mit anderen Menschen aus der Ukraine zusammen ist, aber es ist unangenehm mit Ausländern. In diesen Momenten können wir unser Trauma deutlich sehen, das wie eine Mauer zwischen uns Ukrainern und allen anderen steht. Es ist möglich, sie zu durchbrechen, wir versuchen es aufrichtig, aber es ist nicht einfach und oft sogar schmerzhaft.
Und schließlich sind wir diejenigen, die akzeptiert haben, dass das Leben nie wieder so sein wird wie früher. Im Winter, als ich meiner Mutter half, von Graz zurück nach Charkiw zu ziehen, fuhren wir zur nordöstlichen Grenze der Stadt, zum dem Punkt, an dem Charkiw am 24. Februar 2022 auf die ersten Invasoren traf, dem Ort der schwersten Kämpfe. Vor dem Krieg kamen wir am Weg zum Dorfhaus meiner Großeltern immer an dieser Stelle vorbei, und wir erinnerten uns an das Wegzeichen am Eingang zur Stadt – riesige Buchstaben aus Metall, die das Wort „Charkiw“ bildeten.
Es war durch feindliches Feuer schwer beschädigt, das Metall war verschmort, einige Buchstaben waren komplett verschwunden. In der Nähe gab es einen Kontrollposten, an dem mehrere Soldaten Dienst taten. Ich fragte sie, ob ich ein Foto von dem Zeichen machen könne, und einer der Soldaten stand auf, um mich dorthin zu begleiten, denn es war immer noch ziemlich gefährlich, sich allein in diesem Gebiet zu bewegen. Als wir uns dem Objekt näherten und ich das Ausmaß der Zerstörung sah, begann ich am ganzen Körper zu zittern und meine Augen füllten sich mit Tränen. Der Soldat tröstete mich mit einer leichten Umarmung, er bot mir an, ein Foto von mir vor dem deformierten Schriftzug zu machen, „zum Andenken“, sagte er. Ich sagte ihm, dass ich diese Art von Erinnerungen lieber nicht haben möchte. Der Soldat seufzte.
„Da kann man nichts machen. Das ist es, was wir jetzt sind. Das ist unsere Erinnerung“, sagte er mit einem sanften Lächeln.
Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Auf meiner Facebook-Seite wurde mir vor kurzem eine Fotoerinnerung aus dem Jahr 2015 angezeigt. An dem Tag habe ich Tetiana Gaidamaka in Odessa kennengelernt. Ich war von dieser Frau sofort fasziniert und alle diese Jahre haben nur bestätigt, dass ich Recht hatte. Sie ist eine bekannte Augenärztin. Vor dem Krieg arbeitete sie als renommierte Spezialistin in der Abteilung für Hornhautpathologie in der Filatov-Klinik in Odessa. Im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn hat Tetiana tausenden Patienten aus der ganzen Welt geholfen.
Tetiana arbeitet fast 40 Jahre als Ärztin. Damit könnte sie bereits seit langem im wohlverdienten Ruhestand sein. Als ich im März 2022 erfuhr, dass Tetiana und ihr Mann Hans-Dirk (ein deutscher Staatsbürger, der die letzten zehn Jahre in Odessa lebte) nach Österreich flohen, dachte ich, sie würde sich endlich von der Arbeit erholen. Aber ich irrte mich sehr. Die „Erholung“ dauerte nur wenige Wochen, denn den Arztkittel niederzulegen, kommt für Tetiana nicht in Frage. Für die Augenärztin steckt die Motivation hinter ihrer Arbeit in der Liebe zum Menschen. Sie will etwas von ihrem Glück zurückgeben.
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„Nach ein paar Tagen in Österreich begannen mich meine Emotionen zu zerstören. Der Schmerz von allem, was passierte, die damit verbundenen Schuldgefühle, dass ich meine Heimat und meine Arbeit verlassen hatte“, erzählt die Ärztin. „Die Sehnsucht nach geliebten Menschen und Verwandten raubte mir den Atem. Die körperliche und emotionale Erschöpfung war einfach zu groß. Deshalb rief ich den Chefarzt des Transkarpatischen Zentrums für Augenmikrochirurgie, Valery Belyaev, an, teilte meine Gedanken mit und fragte, ob ich im Zentrum nützlich sein könnte. Ich erfuhr, dass der Direktor des Zentrums, Oleg Moroz, seit den ersten Kriegstagen an der Front war.“
Die Entscheidung in ihr Heimatland zu fahren, um zu helfen, wurde schnell getroffen. Am 23. Mai 2022 fand Tetianas erste Reise nach Uschgorod statt, wo die Ärztin Patienten mit schweren Hornhauterkrankungen konsultierte. Seitdem finden jeden Monat Konsultationen in Uschgorod statt, für die Tetiana aus Österreich anreist. Im Herbst führte sie die erste penetrierte Hornhauttransplantation in Transkarpatien durch.
Außerdem wurde Frau Gaidamaka in die Klinik AILAZ nach Kiew eingeladen. Es war notwendig, eine Keratoplastik für ältere Patienten durchzuführen, die aufgrund eines schlechten körperlichen Zustands und wegen des Krieges nicht zur Operation nach Odessa fahren konnten. Später führten Tetiana und ihre Kollegen in Kiew zwei Hornhauttransplantationen durch. Seitdem kommt die Ärztin alle zwei Monate in die Hauptstadt.
In beiden Kliniken werden unsere Verteidiger, das Militär und die Flüchtlinge kostenlos beraten und behandelt, einschließlich der Operationen. Beide Kliniken leisten ständig humanitäre Hilfe für die Armee.
Aber das Pendeln zwischen Österreich und der Ukraine ist nicht leicht. Tetiana erinnert sich noch sehr gut an die erste Reise im Mai. „Als ich das erste Mal nach Uschgorod ging, war ich sehr besorgt. Mit dem Bus die Strecke Wien-Budapest, dann mit dem Auto Budapest-Uschgorod. Als ich die Grenze überquerte, wurde es so ruhig. Seit Kriegsbeginn habe ich nicht so gut geschlafen wie in der ersten Nacht in Uschgorod. Davor bin ich jede Nacht aufgewacht, und oft fiel dies mit Raketenangriffen und Alarmen in Odessa zusammen. Der Weg nach Kiew ist länger, aber auch ok, mit dem Zug oder Bus. Bei meiner Rückkehr muss ich die Grenze länger überqueren, zwischen zwei bis zwölf Stunden muss ich dort warten. Aber das ist kein Problem. Die Hauptsache ist: Ich kann mich nützlich machen.“
Ärztin Tetiana Gaidamaka mit ihrem Patienten Ivan (Mitte). Foto: Privat Während ihrer Reisen in die Ukraine trifft Tetiana viele Leute. Einige Lebensgeschichten berühren sie zutiefst. Aufgeregt erzählt sie mir über ihren Patienten Ivan, den sie in Uschgorod operierte.
Er meldete sich in den ersten Kriegstagen freiwillig an die Front, ohne sich vorher einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Eigentlich durfte er nicht mobilisiert werden, weil er an einer chronischen Augenkrankheit und Sehbehinderung leidet. Im Krieg erlitt er eine Kontusion, sein Sehvermögen nahm noch mehr ab. Als sich der Allgemeinzustand besserte, führten Tetiana und ihre Kollegen eine perforierende Keratoplastik durch. Die Sehkraft hat sich von 2 Prozent auf 50 Prozent erhöht. Keratoplastik beinhaltet eine lange Rehabilitation. Tetiana hofft, dass sich Ivans Sehvermögen weiter verbessern wird.
Noch eine Geschichte ist ihr stark in Erinnerung geblieben: Einmal, auf dem Weg nach Wien, waren sieben Passagiere im großen Auto. Die Fahrerin war eine junge Frau aus der Nähe von Kiew. Ihre ganze Familie verbrachte während der Besetzung mehrere Wochen im Keller. Ihre Wohnung, ihr Geschäft, ihr Café – alles wurde geplündert. Nach der Befreiung von den Besatzern zog die Familie nach Uschgorod. Im Auto saß auch eine Familie aus Irpin, eine Mutter, Großmutter und ein 9 Monate alter Junge, deren Haus von russischen Soldaten besetzt wurde. Alle unteren Stockwerke wurden zerstört, ausgeraubt und verschmutzt. Noch eine Passagierin war eine junge Frau, die ihren Mann verloren hatte. Er ist an der Front gefallen. So viel Leid in einem Auto.
Tetiana Gaidamaka erzählt mir, wie sehr die Einwohner Österreichs den Ukrainern helfen, wie sehr sie sympathisieren. „In unserem kleinen Mauerbach“, sagt die Ärztin, „leben etwa 3500 Einwohner. Zu Beginn des Krieges kamen 52 ukrainische Flüchtlinge hierher, jetzt sind es noch 32. Sowohl der Bürgermeister persönlich als auch die Einwohner von Mauerbach helfen mit kostenlosen Wohn- und Schulkosten und anderen Dingen. Wir sehen große Anteilnahme und Unterstützung, auch für uns. Wir zahlen für unsere Wohnung nur die Nebenkosten und sind unserem Vermieter sehr dankbar für dieses Entgegenkommen. Auf diese Weise leben wir unabhängig von staatlicher Unterstützung.“
Sobald der Krieg endet, hofft Tetiana, dass alle ihre Verwandten und Freunde nach Odessa zurückkehren. Dann kann die Ärztin all ihre Lieben wieder treffen und umarmen.
„Und dann erholen Sie sich endlich?“, frage ich vorsichtig.
„Nein“‚ lächelt Tetiana, „dann kann und will ich noch mehr arbeiten …“
Das ist der dritte Teil unserer Tagebücher aus dem Kriegsgebiet, der den Zeitraum ab Mai 2023 abdeckt.