Im Kriegsgebiet | Tagebücher aus der Ukraine

Karina Beigelzimer

Auf meiner Facebook-Seite wurde mir vor kurzem eine Fotoerinnerung aus dem Jahr 2015 angezeigt. An dem Tag habe ich Tetiana Gaidamaka in Odessa kennengelernt. Ich war von dieser Frau sofort fasziniert und alle diese Jahre haben nur bestätigt, dass ich Recht hatte. Sie ist eine bekannte Augenärztin. Vor dem Krieg arbeitete sie als renommierte Spezialistin in der Abteilung für Hornhautpathologie in der Filatov-Klinik in Odessa. Im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn hat Tetiana tausenden Patienten aus der ganzen Welt geholfen.
Tetiana arbeitet fast 40 Jahre als Ärztin. Damit könnte sie bereits seit langem im wohlverdienten Ruhestand sein. Als ich im März 2022 erfuhr, dass Tetiana und ihr Mann Hans-Dirk (ein deutscher Staatsbürger, der die letzten zehn Jahre in Odessa lebte) nach Österreich flohen, dachte ich, sie würde sich endlich von der Arbeit erholen. Aber ich irrte mich sehr. Die „Erholung“ dauerte nur wenige Wochen, denn den Arztkittel niederzulegen, kommt für Tetiana nicht in Frage. Für die Augenärztin steckt die Motivation hinter ihrer Arbeit in der Liebe zum Menschen. Sie will etwas von ihrem Glück zurückgeben.
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„Nach ein paar Tagen in Österreich begannen mich meine Emotionen zu zerstören. Der Schmerz von allem, was passierte, die damit verbundenen Schuldgefühle, dass ich meine Heimat und meine Arbeit verlassen hatte“, erzählt die Ärztin. „Die Sehnsucht nach geliebten Menschen und Verwandten raubte mir den Atem. Die körperliche und emotionale Erschöpfung war einfach zu groß. Deshalb rief ich den Chefarzt des Transkarpatischen Zentrums für Augenmikrochirurgie, Valery Belyaev, an, teilte meine Gedanken mit und fragte, ob ich im Zentrum nützlich sein könnte. Ich erfuhr, dass der Direktor des Zentrums, Oleg Moroz, seit den ersten Kriegstagen an der Front war.“
Die Entscheidung in ihr Heimatland zu fahren, um zu helfen, wurde schnell getroffen. Am 23. Mai 2022 fand Tetianas erste Reise nach Uschgorod statt, wo die Ärztin Patienten mit schweren Hornhauterkrankungen konsultierte. Seitdem finden jeden Monat Konsultationen in Uschgorod statt, für die Tetiana aus Österreich anreist. Im Herbst führte sie die erste penetrierte Hornhauttransplantation in Transkarpatien durch.
Außerdem wurde Frau Gaidamaka in die Klinik AILAZ nach Kiew eingeladen. Es war notwendig, eine Keratoplastik für ältere Patienten durchzuführen, die aufgrund eines schlechten körperlichen Zustands und wegen des Krieges nicht zur Operation nach Odessa fahren konnten. Später führten Tetiana und ihre Kollegen in Kiew zwei Hornhauttransplantationen durch. Seitdem kommt die Ärztin alle zwei Monate in die Hauptstadt.
In beiden Kliniken werden unsere Verteidiger, das Militär und die Flüchtlinge kostenlos beraten und behandelt, einschließlich der Operationen. Beide Kliniken leisten ständig humanitäre Hilfe für die Armee.
Aber das Pendeln zwischen Österreich und der Ukraine ist nicht leicht. Tetiana erinnert sich noch sehr gut an die erste Reise im Mai. „Als ich das erste Mal nach Uschgorod ging, war ich sehr besorgt. Mit dem Bus die Strecke Wien-Budapest, dann mit dem Auto Budapest-Uschgorod. Als ich die Grenze überquerte, wurde es so ruhig. Seit Kriegsbeginn habe ich nicht so gut geschlafen wie in der ersten Nacht in Uschgorod. Davor bin ich jede Nacht aufgewacht, und oft fiel dies mit Raketenangriffen und Alarmen in Odessa zusammen. Der Weg nach Kiew ist länger, aber auch ok, mit dem Zug oder Bus. Bei meiner Rückkehr muss ich die Grenze länger überqueren, zwischen zwei bis zwölf Stunden muss ich dort warten. Aber das ist kein Problem. Die Hauptsache ist: Ich kann mich nützlich machen.“
Ärztin Tetiana Gaidamaka mit ihrem Patienten Ivan (Mitte). Foto: Privat Während ihrer Reisen in die Ukraine trifft Tetiana viele Leute. Einige Lebensgeschichten berühren sie zutiefst. Aufgeregt erzählt sie mir über ihren Patienten Ivan, den sie in Uschgorod operierte.
Er meldete sich in den ersten Kriegstagen freiwillig an die Front, ohne sich vorher einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Eigentlich durfte er nicht mobilisiert werden, weil er an einer chronischen Augenkrankheit und Sehbehinderung leidet. Im Krieg erlitt er eine Kontusion, sein Sehvermögen nahm noch mehr ab. Als sich der Allgemeinzustand besserte, führten Tetiana und ihre Kollegen eine perforierende Keratoplastik durch. Die Sehkraft hat sich von 2 Prozent auf 50 Prozent erhöht. Keratoplastik beinhaltet eine lange Rehabilitation. Tetiana hofft, dass sich Ivans Sehvermögen weiter verbessern wird.
Noch eine Geschichte ist ihr stark in Erinnerung geblieben: Einmal, auf dem Weg nach Wien, waren sieben Passagiere im großen Auto. Die Fahrerin war eine junge Frau aus der Nähe von Kiew. Ihre ganze Familie verbrachte während der Besetzung mehrere Wochen im Keller. Ihre Wohnung, ihr Geschäft, ihr Café – alles wurde geplündert. Nach der Befreiung von den Besatzern zog die Familie nach Uschgorod. Im Auto saß auch eine Familie aus Irpin, eine Mutter, Großmutter und ein 9 Monate alter Junge, deren Haus von russischen Soldaten besetzt wurde. Alle unteren Stockwerke wurden zerstört, ausgeraubt und verschmutzt. Noch eine Passagierin war eine junge Frau, die ihren Mann verloren hatte. Er ist an der Front gefallen. So viel Leid in einem Auto.
Tetiana Gaidamaka erzählt mir, wie sehr die Einwohner Österreichs den Ukrainern helfen, wie sehr sie sympathisieren. „In unserem kleinen Mauerbach“, sagt die Ärztin, „leben etwa 3500 Einwohner. Zu Beginn des Krieges kamen 52 ukrainische Flüchtlinge hierher, jetzt sind es noch 32. Sowohl der Bürgermeister persönlich als auch die Einwohner von Mauerbach helfen mit kostenlosen Wohn- und Schulkosten und anderen Dingen. Wir sehen große Anteilnahme und Unterstützung, auch für uns. Wir zahlen für unsere Wohnung nur die Nebenkosten und sind unserem Vermieter sehr dankbar für dieses Entgegenkommen. Auf diese Weise leben wir unabhängig von staatlicher Unterstützung.“
Sobald der Krieg endet, hofft Tetiana, dass alle ihre Verwandten und Freunde nach Odessa zurückkehren. Dann kann die Ärztin all ihre Lieben wieder treffen und umarmen.
„Und dann erholen Sie sich endlich?“, frage ich vorsichtig.
„Nein“‚ lächelt Tetiana, „dann kann und will ich noch mehr arbeiten …“
Das ist der dritte Teil unserer Tagebücher aus dem Kriegsgebiet, der den Zeitraum ab Mai 2023 abdeckt.