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Im Kriegsgebiet | Tagebücher aus der Ukraine

Von Olia Fedorova, Karina Beigelzimer, Zhenya Laptii und Christian Wehrschütz

Zhenya Laptii

Der Krieg, der nach den Prognosen aller Analysten nur drei Tage hätte dauern sollen, geht nun schon in seinen dritten Winter. Der Donbass ist beinahe zur Gänze besetzt, russische Truppen stehen in der Nähe von Kupjansk, und die räuberisch-gierige Hand Russlands und seiner Helfershelfer packt von allen Seiten her zu.

Vor einem Jahr war ich um diese Zeit herum im Donbass. Heute befinden sich diese Städte und Dörfer unter russischer Besatzung. Damals teilten mir Militärs ohne Umschweife und direkt mit: „Dieser Krieg wird lange dauern, jahrzehntelang.“ Sie meinten, dass der Donbass vollständig unter russische Besatzung gelangen würde und wir die Bevölkerung auf einen langen Krieg vorbereiten müssten, was wir aber nicht hören wollten, weil die trügerische Hoffnung auf ein „Happy End“ unseren Blick trübte.

Wie geht es nun weiter? Wie kann man in einer Realität leben, in der der Krieg rund um die Uhr tobt? Wie kann man in einer Realität leben, in der man auf den Straßen immer mehr Menschen mit Amputationen erblickt und in der es immer mehr Tod und Trauer gibt? Die Antwort darauf fällt ganz simpel aus: Man gewöhnt sich einfach daran.

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    So wie man sich an gute Dinge gewöhnt, gewöhnt man sich auch an schlechte. Die erste Explosion erschreckt dich, die zweite ebenso und auch noch die dritte. Aber irgendwann vernimmt man nur noch ein Geräusch, an das man sich gewöhnt hat und mit dem man lebt, als wäre es nichts anderes als ein Snack zum morgendlichen Kaffee.

    So ist das Leben in Charkiw heute. Explosionen gehören zu unserem Alltag dazu, genauso wie in Paris ein köstlicher Kaffee am Morgen und ein duftendes Croissant oder in Österreich ein Ausflug in die Berge zum Wandern dazugehört. Jeder Mensch lebt seinen eigenen Alltag, nur bei uns ist er mit Blut und dem Geruch von Raketentreibstoff durchzogen.

    Charkiw bereitet sich auf den dritten Kriegswinter vor. Man sagt, es wird der schlimmste werden, aber dieses Wort macht uns keine Angst mehr. Oder etwa doch? Irgendwo in unserem Unterbewusstsein bereiten wir uns immer auf das Schlimmste vor. Jede Generation von Menschen in der Ukraine hat einen Krieg erlebt. Wir sind Menschen des Krieges, wir wissen nicht, was Frieden ist, und wir sind immer auf das Schlimmste gefasst. Das ist anstrengend, und man möchte am liebsten alles hinter sich lassen und in ein ruhiges und friedliches Europa gehen, wo die Menschen wissen, was Frieden ist.

    Einige Militärs sagen, dass es einen Bürgerkrieg geben wird. Zu viele Menschenleben wurden für den Donbass geopfert, und sehr viele Menschen werden sich nicht damit abfinden, dass der Donbass vollständig besetzt ist. Andere wiederum haben die Teilung längst akzeptiert und machen mit ihrem Leben weiter.

    Man sagt, dass Bürgerkriege die blutigsten Kriege sind.

    Ukrainischer Soldat auf einem Trainingsgelände in der Region Donetsk. Foto: AP/Ukrainian 24th Mechanised Brigade/Oleg Petrasiuk

    Charkiw bereitet sich darauf vor, einen dritten Winter unter den Bedingungen des Krieges zu erleben. Man sagt, es werde der härteste sein. Das Wärmekraftwerk, das die gesamte Stadt versorgte, ist vollständig zerstört, und der Beginn der Heizperiode wurde auf Anfang November verschoben. Doch die Natur ist auf unserer Seite: Es ist Ende Oktober, und draußen ist es 18 Grad warm. In früheren Jahren ist um diese Zeit bereits der erste Schnee gefallen.

    Wir bekommen autonome Kraftwerke, die ganze Stadtteile mit Strom versorgen können. Es ist eine Art gegenseitige Jagd mit dem Ziel, den jeweils anderen zu überlisten: Entweder wir überlisten Russland oder Russland überlistet uns. Allerdings hat das Land des Aggressors weit größere Ressourcen an Bomben und Menschen, sodass das Zermürbungsspiel weitergeht.

    Es heißt, dass die Menschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht wussten, dass ein Krieg dieses Namens über sie hereingebrochen war. Sie lebten einfach ihr Leben weiter, und von irgendwo draußen her konnten sie den Lärm und den Widerhall der Kämpfe hören. Vielleicht wissen auch wir nicht, dass wir uns bereits im Dritten Weltkrieg befinden. Wir haben es mit nordkoreanischen Söldnern und iranischen Drohnen zu tun, sodass sich die Frage stellt, ob das noch ein russisch-ukrainischer oder gar schon ein globaler Krieg ist.

    Bombenschäden im Oktober an einem Wohngebäude in Charkiw. Foto: Imago Images/Viacheslav Madiievskyi

    Ich würde gerne glauben, dass dieser Krieg eines Tages zu Ende gehen wird, aber es reicht schon aus, auf den Balkon zu gehen und die Explosionen zu hören. Von meiner Wohnung aus vernehme ich alles, was sich am Horizont abspielt. Dort, 30 Kilometer entfernt, ist die Front, aber hier bei mir gibt es noch Anzeichen für ein „normales“ Leben, in dem wir uns auf den Winter vorbereiten; wir kaufen Öfen, dämmen und isolieren unsere Wohnungen und entwickeln Aktionspläne für den Fall eines Strom- und Heizungsausfalls. Vor einer Woche wurde Charkiw massiv beschossen, und die ganze Stadt war ohne Strom. Wenn man auf den Balkon geht und auf die dunkle Stadt ohne ein einziges Licht blickt, wirkt sie wie eine Geisterstadt aus einer vergangenen Zivilisation, die längst ausgestorben ist und von der nur noch steinerne Gebäude als Zeugen ihrer einstigen Existenz übriggeblieben sind.

    Doch nur wenige Stunden später wurde der Strom wieder eingeschaltet, sodass wir in einem Wechselspiel von völliger Dunkelheit und dem hellen Flackern von Glühbirnen leben.

    Doch die Freude über die wiedererlangte Helligkeit verblasst, und angstvolle Gedanken machen sich in uns breit: Wenn der Donbass zur Gänze besetzt ist, wird Charkiw dann das nächste Opfer sein? Ist das etwa gar nur eine Frage der Zeit? Russland nimmt die zweitgrößte Stadt der Ukraine ins Visier und lässt auf jedem Meter seines Vorrückens verbrannte Erde zurück. Wir haben bereits einmal standgehalten, aber werden wir es ein weiteres Mal schaffen?

    Wir kämpfen seit Hunderten von Jahren für unsere Unabhängigkeit, unsere Identität und unser Heimatland. Werden wir die letzte Generation sein, die einen Krieg erlebt, oder wird dieser Krieg der Beginn eines noch größeren Konflikts sein, der die ganze Welt verschlingen wird? Wir wissen es nicht und bereiten uns nur auf den bislang schlimmsten Kriegswinter vor.

Karina Beigelzimer

Der September bringt für mich eine besondere Spannung mit sich. Seit 27 Jahren arbeite ich als Journalistin und seit 26 Jahren als Lehrerin – zwei Berufe, die mir viel Freude und Erfüllung schenken. Als Lehrerin habe ich das Privileg, junge Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen etwas von mir mitzugeben.

Doch dieses Jahr sind meine Gefühle widersprüchlich. Einerseits freue ich mich darauf, meine Schülerinnen und Schüler wiederzusehen, andererseits wird diese Freude von den düsteren Schatten des Krieges überschattet, der unser Leben bestimmt.

Am ersten Schultag gab es einen Moment, der mich besonders berührte: Unser Schulleiter, der sich derzeit an der Front befindet, schickte eine Videobotschaft an die Schüler. Sie lauschten seinen Worten, viele von ihnen tief bewegt. Da der Krieg schon so lange andauert, kennen die jüngeren Schüler ihn nur aus Erzählungen. Umso ergreifender war es, seine Stimme zu hören – ein Moment, der die harte Realität des Krieges spürbar machte.

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    Trotz all dieser Herausforderungen bleibe ich entschlossen, weiterzumachen. Es ist für mich nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine Quelle der Inspiration, die Resilienz meiner Schülerinnen und Schüler zu sehen. Gemeinsam balancieren wir zwischen dem Schutz vor der Bedrohung und dem Wunsch, ihnen dennoch eine stabile und fördernde Lernumgebung zu bieten.

    Unser neues Schuljahr begann unter erschwerten Bedingungen. Unser Schutzraum entspricht nicht den Sicherheitsstandards, die in unserer Stadt jetzt erforderlich wären. Die ersten Tage haben wir den Unterricht online abgehalten, mittlerweile arbeiten wir in Schichten und nutzen eine Mischform aus Präsenz- und Onlineunterricht. Die Klassen, die im Schulgebäude sind, müssen im Falle des Luftalarms drei Minuten zum Schutzkeller eines anderen Gebäudes laufen, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet.

    Da Raketen aus der Krim nur wenige Minuten brauchen, um uns zu erreichen, habe ich eine neue Angst entwickelt: meine Schülerinnen und Schüler während eines Raketenangriffs auf offener Straße zu führen.

    Die Schülerinnen und Schüler der Autorin müssen bei Luftalarm über die Straße in den Schutzkeller eines anderen Gebäudes fliehen. Foto: Privat

    Doch trotz all der Herausforderungen habe ich mir kürzlich eine kleine Auszeit gegönnt. Ich wurde zu einer ganz besonderen Hochzeit eingeladen – einer ukrainisch-österreichischen Feier. Die Braut, Anastasia, ist eine ehemalige Schülerin von mir. Nach ihrem Studium arbeitete sie viele Jahre als Deutschlehrerin und war schließlich Direktorin eines deutschen Unternehmens in Odessa. Ihre Liebesgeschichte klingt wie ein modernes Märchen: Im Herbst bat ihr ehemaliger Chef sie, sich mit Philippe, einem IT-Spezialisten aus Österreich, in Verbindung zu setzen, um ein Problem zu lösen. Aus dem beruflichen Kontakt entwickelte sich rasch mehr.

    Im November flog Anastasia nach Wien, und im Januar kam Philippe, trotz der unsicheren Lage, in die Ukraine, um sie zu besuchen. Die beiden heirateten im Sommer in Österreich, doch die Hochzeitsfeier fand im September in Odessa statt, da Anastasias Vater das Land wegen des Krieges nicht verlassen kann.

    Das ukrainisch-österreichische Hochzeitspaar am Strand von Odessa. Foto: Privat

    Die Zeremonie am Meer war unvergesslich. Das Brautpaar hatte nur die engsten Freunde und Verwandten eingeladen, einige reisten sogar aus Wien an. Die Hochzeit war von ukrainischen Traditionen geprägt, und das Schicksal meinte es gut mit ihnen: An diesem Abend herrschte in Odessa eine friedliche Stille. Kein Luftalarm, keine Explosionen, nur das sanfte Rauschen des Meeres, das im Einklang mit den Herzen des Brautpaares schlug. Die Sonne schien, als würde sie den Weg der beiden segnen.

    Und so stand ich am Ufer des Schwarzen Meeres, sah dem glücklichen Paar zu und dachte: Es sind diese Momente, die mich daran erinnern, dass es auch in den schwierigsten Zeiten Lichtblicke gibt. Liebe, Hoffnung und Menschlichkeit finden immer einen Weg – selbst im Krieg. Manchmal braucht es nur zwei Menschen, die den Mut haben, einander zu begegnen, um die Welt ein kleines bisschen heller zu machen.

Karina Beigelzimer

Meine Heimatstadt Odessa erlebt den dritten Sommer im Schatten des Krieges mit Russland. In den letzten Tagen hat Russland erneut die Ukraine mit zahlreichen Drohnen und Raketen angegriffen. In der Stadt ist der Strom ausgefallen, und wir haben Explosionen gehört. Der Betrieb des elektrischen Nahverkehrs wurde vorübergehend eingestellt. Odessa befindet sich jetzt in einem fragilen Gleichgewicht zwischen Normalität und Ausnahmezustand.

Doch trotz der allgegenwärtigen Gefahr zeigt die Stadt eine beeindruckende Resilienz und Lebenskraft. Die Straßen, die zu Beginn des Krieges oft menschenleer waren, füllen sich wieder mit Leben. Entlang der Küste flanieren Paare, Kinder spielen am Strand, und die salzige Meeresluft erfüllt die Stadt mit einem Hauch von Normalität. Die Menschen von Odessa, stolz und ungebrochen, zeigen, dass ihre Stadt lebt und niemals untergehen wird.

Ein entscheidender Faktor für dieses neue Lebensgefühl ist die Stärkung der Luftabwehrsysteme. Sie geben den Einwohnern und Besuchern ein gewisses Maß an Sicherheit, das es ihnen ermöglicht, zumindest für einige Stunden den Krieg zu vergessen. Odessa ist wieder ein Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Ukraine. Von Charkiw über Kiew bis Dnipro – die Nachfrage nach Tickets ist so hoch, dass sie oft Wochen im Voraus ausverkauft sind.

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    Odessa ist wieder ein Ort, der von seinem Tourismus lebt. Die Einnahmen durch die Gäste sind essenziell für die lokale Wirtschaft. Hoteliers, Taxifahrer und Restaurantbesitzer profitieren von den Besuchern. Und obwohl die Zahl der ausländischen Touristen gering ist, tragen auch sie dazu bei, dass sich Odessa wieder wie die offene und herzliche Stadt anfühlt, die sie immer war.

    Besonders die Strände, die lange Zeit geschlossen waren, erleben nun eine Renaissance. Mehrere von ihnen wurden in diesem Sommer wieder eröffnet, vorher wurden sie gründlich auch nach Minen untersucht, gereinigt und renoviert. Die regionale Militärverwaltung stellte kürzlich eine aktualisierte interaktive Strandkarte vor, die rund 80 Zonen entlang der Küste von Odessa erfasst. Diese Karte zeigt grüne Bereiche, die sicher und für Besucher empfohlen sind, orangefarbene Zonen, in denen Einschränkungen gelten, und rote Zonen, die strikt verboten sind.

    Zwischen Krieg und Urlaubsidyll: Strandbefestigung und Badegäste in Odessa. Foto: Imago/Nina Liashonok/Avalon

    Die Verfügbarkeit von Schutzräumen in Hotels und an öffentlichen Plätzen spielt eine entscheidende Rolle, um Touristen anzuziehen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Obwohl viele Einrichtungen mittlerweile Schutzräume bereitstellen, ist die Anzahl dieser Orte noch immer unzureichend. Zudem fehlt es oft an klaren Hinweisen und Informationsmaterialien, die Touristen im Ernstfall schnell und effektiv informieren. Eine weitere Herausforderung ist die Gewöhnung an den ständigen Fliegeralarm, wodurch viele Menschen die Schutzräume ignorieren – ein gefährliches Spiel mit der eigenen Sicherheit, was die psychische Belastung der Menschen durch den Krieg verdeutlicht.

    Doch die Herausforderungen in Odessa beschränken sich nicht nur auf die Sicherheit. Der Krieg hat auch die Infrastruktur schwer beschädigt. Um die ständigen Stromausfälle zu überbrücken, wurden in vielen Hotels, Cafés und Supermärkten Notstromaggregate installiert. Diese Anpassungen zeugen vom Einfallsreichtum und der Widerstandsfähigkeit der Stadt und ihrer Bewohner. Ein besonders berührendes Beispiel für die Solidarität erlebte ich vor einigen Wochen während einer schweren Hitzewelle: In einem kleinen Bus bot der Fahrer seinen Fahrgästen kostenlos Fächer an, um ihnen die Fahrt angenehmer zu gestalten. Solche Gesten der Menschlichkeit sind es, die Odessa zu einer Stadt machen, in der das Herz trotz aller Widrigkeiten weiter schlägt.

    Die Stadt kämpft nicht nur gegen die äußeren Bedrohungen, sondern auch darum, ihre Seele und Kultur zu bewahren. Veranstaltungen finden weiterhin statt, wenn auch in kleinerem Rahmen. Vor kurzem öffnete das Archäologische Museum, das älteste Museum in Odessa, nach zweieinhalb Jahren wieder seine Türen. Die erste Ausstellung widmet sich der Insel Zmeiny von der Antike bis zur Gegenwart. Zur Eröffnung sind Hunderte Besucher ins Museum geströmt, obwohl es während der langen Schließzeit fast leer war und die wertvollsten Exponate bis zum Sieg sicher eingelagert wurden.

    Ein Stück Normalität: Die Straßen Odessas füllen sich mit Leben. Foto: Privat

    Ein Zeichen der Hoffnung ist auch die Präsenz ukrainischer Soldaten, die sich in der Stadt erholen. Oft sieht man sie in Parks und Cafés, wo sie Zeit mit ihren Kameraden oder Familien verbringen. Diese Soldaten, die an der Front schwerste Belastungen erlebt haben, suchen in Odessa ein Stück Ruhe und Frieden. In speziellen Erholungsheimen werden ihnen nicht nur physische, sondern auch psychologische Betreuungsprogramme angeboten, um ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Die Strände, die besonders für Menschen mit Behinderungen eingerichtet wurden, sind ein weiteres Beispiel für Odessas Bemühungen, allen Menschen, besonders den Verletzten des Krieges, ein Stück Normalität zurückzugeben. Der Kontakt zwischen den Soldaten und den Bürgern Odessas ist oft von Herzlichkeit geprägt. Ein bewegender Moment ereignete sich auf einem Markt in Odessa, als eine ältere Frau einem Soldaten einen Korb mit frischem Obst schenkte und ihn mit Tränen in den Augen umarmte. Die Menschen versuchen auf jede erdenkliche Weise, ihre Unterstützung und Wertschätzung zu zeigen, sei es, ein aufmunterndes Lächeln oder das Zuhören, wenn ein Soldat von seinen Erlebnissen erzählt.

    Ein weiteres ergreifendes Bild in der Stadt sind die Kinder, die aus verschiedenen, besonders vom Krieg betroffenen Regionen der Ukraine nach Odessa gekommen sind. Diese Kinder, z. B. 300 aus Charkiw, die oft Schreckliches erlebt haben, finden hier Ablenkung und Freude. Sie verbringen ihre Tage am Strand, nehmen an kulturellen und Freizeitaktivitäten teil und erhalten eine umfassende Betreuung, die ihnen hilft, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.

Karina Beigelzimer

Nach zweieinhalb Jahren Krieg gab es für meine Schüler und mich endlich eine schöne Gelegenheit, durchzuschnaufen: Wir sind gemeinsam für eine Woche nach Ulm gefahren.

Das internationale Donaufest findet alle zwei Jahre in Ulm statt. Das besondere Flair zeigt sich schon zur Eröffnung: Am Donauufer stehen hunderte Fahnen, die zusammen betrachtet, ein Motiv ergeben, das über die Fahnen hinausweist. Mal sind es farbenfrohe Wellen, dieses Mal bilden Buchstaben die Namen der Donaustaaten sowie das Wort „Donau“ in unterschiedlichen Sprachen des Donauraums.

Das Festgelände präsentiert eine bunte Mischung von internationalen Kunsthandwerkerständen. An ihnen kann man sich Souvenirs aus all den Ländern kaufen, durch die die Donau fließt, ohne dort hinreisen zu müssen. Das Ganze umrahmt ein reichhaltiges Kulturprogramm. Für Kinder werden unter anderem Bastelkurse angeboten. Wenn man davon genug hat, kann man sich kulinarisch durch den gesamten Donauraum schlemmen.

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    Ob serbische Bohnensuppe, österreichische Palatschinken (Pfannkuchen), ungarisches Langosch bis hin zu ukrainischen Wareniki – hier muss niemand hungern. Über dem ganzen Gelände weht der leckere Duft all dieser köstlichen Speisen.  Ich freue mich immer wieder auf dieses schöne Erlebnis. Rund 80 Schüler aus zehn Ländern haben in diesem Jahr daran teilgenommen. In Ulm angekommen, wurden alle herzlichst von der Leiterin, Dr. Swantje Volkmann, empfangen.

    Meine Schüler/innen haben in den letzten zweieinhalb Jahren Krieg und Zerstörung erlebt. Was mich als Erwachsene oft an meine Grenzen bringt, belastet die Seelen der Kinder noch viel mehr. Im Donaujugendcamp können sie für einige Tage das erleben, wovon sie träumen: ein Europa, in dem Menschen aus unterschiedlichen Staaten friedlich zusammenleben, zusammenarbeiten und voneinander lernen. Statt Vorurteilen herrschen hier Neugierde und Toleranz vor.

    Innerhalb weniger Tage erarbeiteten die Jugendlichen ein Theaterstück, das zum Abschluss des Jugendcamps mit Erfolg aufgeführt wurde. Einige machten Musik, andere übten Tänze ein oder gestalteten das Bühnenbild. Am Ende feierten alle zusammen und traten danach müde, aber glücklich die Heimreise an. „Das Camp ist eine Chance, die Welt ein bisschen besser zu machen“, meinte Max, ein Teilnehmer aus Deutschland. „Wir kommen mit so vielen Ideen und Inspirationen nach Hause.“ Es gibt viele Beispiele, bei denen aus diesen Begegnungen Freundschaften entstanden sind, die bis heute halten.

    Die Autorin mit ihren Schülerinnen und Schülern in Ulm. Foto: Privat

    Der Krieg bleibt in den Köpfen der Jugendlichen vorherrschend. Meine Schülerinnen und Schüler erkundigten sich oft mehrmals täglich über ihr Handy, wie es ihren Freunden und Verwandten in der Heimat geht. Die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Monate lassen sich auch im Ausland nicht so einfach abschalten.

    Ein besonders berührender Moment war, als mein Schüler Oleksii Dremliuk, nachdem er von der Zerstörung des Kinderkrankenhauses in der Ukraine gehört hatte, spontan sein ganzes restliches Geld aus der Reisekasse spendete, um den Kindern zu helfen. In seiner Rede sagte Oleskii: „Europa ist nicht nur ein geografischer Raum, sondern eine Idee, die uns inspiriert und uns zusammenführt. Für mich, als jemand, der aus der Ukraine kommt, hat dieser Austausch eine besondere Bedeutung. Meine Heimat hat in den letzten Jahren viel Leid wegen des Krieges erfahren. Doch hier, in diesem Camp, erlebe ich eine Gemeinschaft, die Hoffnung und Zuversicht ausstrahlt. Wir alle haben hier die Möglichkeit, voneinander zu lernen, uns gegenseitig zu unterstützen und uns auszutauschen. Lassen Sie uns also gemeinsam an einer Zukunft arbeiten, die auf Respekt, Toleranz und Zusammenarbeit basiert.“

    Diese Worte spiegeln wider, was das Internationale Donaufest und das Donaujugendcamp so besonders macht: die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Freundschaft und die Überwindung von Grenzen durch gemeinsames Erleben und Lernen.

    Foto: Privat

Karina Beigelzimer

Der Juni in Odessa riecht nach Krieg und Meer. Seit über zwei Jahren tobt der Krieg in unserem Land und ist zu einer bitteren Realität geworden. Obwohl die Front weit weg ist, machen ständige Drohnen- und Raketenangriffe sowie Fliegeralarme das Leben schwer. Auch lange Stromausfälle sind zurückgekehrt und erinnern mich stark an den Winter 2022, als wir oft stunden- oder sogar tagelang ohne Strom auskommen mussten.

Diese Stromausfälle machen das Planen fast unmöglich, sodass ich oft improvisieren muss. Im Alltag bin ich gezwungen, mich nach den verfügbaren Stromzeiten zu richten. Kochen, Waschen und andere Haushaltsaufgaben müssen in die wenigen Stunden passen, in denen Strom vorhanden ist. Das erfordert viel Flexibilität und schnelles Handeln.

In meiner Arbeit nutze ich jede Minute mit Strom so produktiv wie möglich. Oft fühlt es sich an wie ein Wettlauf gegen die Zeit, und ich habe gelernt, immer bereit zu sein, sobald der Strom wieder da ist. Dieser ständige Anpassungsdruck erhöht den Stress enorm, besonders da der Alltag ohnehin schon durch die täglichen Drohnen- und Raketenangriffe belastet ist. Die Kombination aus unsicherer Stromversorgung und ständiger Bedrohung hat dazu geführt, dass viele Menschen, darunter auch einige meiner Bekannten, darüber nachdenken, die Region zu verlassen.

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    Da es in der Schule, in der ich arbeite, Ferien gibt, habe ich mehr Zeit für meine journalistische Tätigkeit. In der Stadt ist viel los, aber Odessa wirkt müde. Die Mobilisierung hat die Gesellschaft gespalten: Diejenigen, die an der Front sind und Erholung brauchen, und diejenigen, die nicht kämpfen wollen. Es ist eine schwierige Situation.

    Aber der Sommer bleibt der Sommer, und die wunderschöne Natur blüht in schönen Farben. Einige Strände sind wieder offen und locken viele Menschen an. Für mich ist es keine Option, entspannt baden zu gehen, wenn so oft Raketen und Drohnen fliegen. Trotzdem gehe ich ab und zu ans Meer, um frei atmen zu können, einfach einen Kaffee zu trinken, aber immer in der Nähe eines Schutzkellers.

    Einige Strände sind in Odessa wieder offen. Am Meer kann man auch etwas trinken gehen. Foto: Privat

    Touristische Angebote in Odessa richten sich zurzeit vor allem an Binnentouristen und die Bewohner der Region. Ausländische Gäste reisen derzeit selten nach Odessa. Trotzdem ist die Vielfalt der angebotenen Aktivitäten beeindruckend: von Gastrotouren über Verkostungen in den Katakomben bis hin zu einem Bierfestival und einem Fest im Botanischen Garten. Auch semi-kulturelle Veranstaltungen sind geplant, wie ein Brunch mit Schauspielern. Es gibt auch Stadtführungen für Flüchtlinge und Quests für Kinder.

    In letzter Zeit wurden in Odessa viele kleine gemütliche Cafés eröffnet, die oft thematische Abende oder Vorlesungen veranstalten. Diese Ereignisse zeigen, dass die Menschen sich einerseits vom Krieg ablenken wollen, andererseits auch ein Stück Normalität für ihr Leben wiedererlangen möchten. Ein anderes Beispiel ist das Odessaer Filmstudio, dessen Leiter kürzlich den Plan vorgestellt hat, einen historischen Film über die Stadt zu drehen. Solche Nachrichten sind sehr wichtig für die Moral der Bewohner und Gäste der Stadt.

    Es ist Abend. Ich sehe Kinder, die in den Parks spielen, Paare, die Hand in Hand spazieren gehen, und alte Freunde, die sich an Straßenecken unterhalten. Diese Momente geben mir Hoffnung. Hoffnung, dass wir irgendwann in einer friedlicheren Zeit leben werden.

    Der Juni in Odessa ist eine Mischung aus Krieg und Meer, aus Schmerz und Schönheit, aus Hoffnung und Resilienz. Es ist ein Monat, der uns daran erinnert, dass das Leben in all seinen Facetten weitergeht, auch wenn die Umstände schwierig sind.

Zhenya Laptii

Als ich unter der Besatzung gelebt habe, habe ich die russische Offensive von innen her gesehen. Ich sah eine Seite, die die Namen Verzweiflung, Angst und Unglauben trägt.

Jetzt bin ich auf der anderen Seite, und es gibt wieder eine Offensive, die sich ein weiteres Mal gegen mein Dorf richtet, aber nun stehe ich auf der anderen Seite – ich bin draußen. Mein Leben hat sich wahrlich in eine seltsame Richtung entwickelt. Als ich unter der Besatzung gelebt habe, habe ich mir jeden Tag gedacht: „Was würde ich bloß dafür geben, auf der anderen Seite, in Charkiw, zu sein?“ … Mir fällt dazu die Redensart „Hüte dich vor deinen Sehnsüchten!“ ein.

Je näher man dem Kreisverkehr kommt, desto weniger zivile Autos sieht man, und allmählich verwandelt sich der Strom der Fahrzeuge in ein einziges khakifarbenes Band: Pick-up-Trucks in allen möglichen Ausführungen und Modellen. Es ist, als wären wir irgendwo in Texas gelandet, mitten in einem amerikanischen Film. Die Hitze, unser Pick-up, eine Tankstelle und mein Kaffee … ich tätige zu alldem bloß eine einzige Notiz: „Das ist meine Gegend, das ist meine Straße, die ich immer benutzt habe, um von der Stadt ins Dorf zu kommen.“

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    Der Film geht weiter. Die leere Straße führt auf den Horizont zu, als infolge eines Angriffs ein riesiger Feuerball erscheint und alles Leben in tobenden Flammen aufgehen lässt.

    Ich befinde mich jetzt auf dieser Seite, ich sehe die Offensive von außen. Ich erblicke einen oder zwei unserer Hubschrauber.

    Mein Großvater sagt: „Das sind unsere.“

    Meine Großeltern sind wieder in ihr Dorf zurückgekehrt. Sie haben es nicht einmal eine Woche in Charkiw ausgehalten. Sie wollten zurück zu ihren Wurzeln. Heimaterde bleibt Heimaterde.

    Bei meiner Großmutter läuft alles nach Plan ab: Die Pfingstrosen blühen, die Triebe der Erdbeerstöcke sind abgefroren, die Kartoffelbeete müssen gejätet werden. So ist es seit jeher, und so wird es auch bleiben. Oma ist die stabilste Konstante dieser Welt.

    Die güldene Sonne taucht alles in honigfarbenes Licht.

    Großvater zeigt Anja (meiner Freundin, die mit mir mitgekommen ist) eine Blume und brüstet sich mit seinem Wissen:

    Das ist eine Levkoje, sie blüht in der Nacht; sie riecht so gut, was ist das doch für ein Duft!

    Ja, es riecht hier wirklich so gut wie sonst nirgendwo auf der Welt, und auch die bloße Erde verströmt Duft. Schwarze Erde, fruchtbare Erde, meine Erde!

    Aber es ist Zeit zu gehen, und wir verabschieden uns von meinen Großeltern. Wir knuddeln die Katzen und fahren nach Charkiw. Eine leere Straße, leere Feldwege, zerbombte Häuser. Vor drei Monaten herrschte hier noch reges Leben, und die Menschen bauten ihre beschädigten und nicht zur Gänze zerstörten Häuser wieder auf, aber jetzt ist es still. Und das Schlimmste ist: Auf die Stille folgt immer ein Sturm.

    Das war letztes Jahr in Kurachowe der Fall, als wir mit einer humanitären Mission dorthin fuhren. Jetzt stehen die russischen Truppen knapp vor der Stadt.

    Und das ist meine größte Angst: dass sich die russischen Truppen Schritt für Schritt, Millimeter für Millimeter meinem Dorf nähern und mein Land verwüsten.

    Die Besatzung war plötzlich da, aber dieses Mal …

    Dieses Mal bin ich draußen und befinde mich auf der Seite, die den Namen Glauben trägt!

    Foto: Privat

    Wir fahren nach Charkiw und passieren ein völlig leeres Dorf; man trifft auf keinen einzigen Zivilisten, nur auf Soldaten. Überall sind Soldaten, es ist jetzt ihr Dorf. Sie herrschen hier. Auf dem Weg nach Charkiw halten wir beim Hauptquartier der Freiwilligen an, wo drei Männer beim Abendessen sitzen.

    Wollt ihr was essen, Mädchen? Es gibt Sülze, Gurken und Tomaten.

    Nein, danke, wir nehmen Decken für die Soldaten mit und fahren weiter, denn es dämmert schon, und wir müssen zurück.

    Aber wir werden dennoch an den Tisch gebeten und mit Essen verwöhnt.

    Das Gespräch dreht sich natürlich um den Krieg, um die Offensive und um die Besatzung. Jeder erzählt von seinen Erfahrungen und erinnert sich daran, wie es unter der Besatzung war.

    Meine Schwiegertochter hat während der Besatzung entbunden; ein hiesiger Therapeut hat das Kind auf die Welt gebracht.

    Und die russischen Soldaten haben nichts gemacht?

    Nein, sie haben uns nur ein paar Windeln gebracht und das war’s.

    Ist es ein Mädchen oder ein Junge?

    – Ein Junge, er wurde am 18. April 2022 geboren.

    Das Gespräch entwickelt sich allmählich in Richtung jener Frage, die mir am meisten auf der Zunge liegt:

    Gab es Verteidigungsanlagen oder nicht? Was hat es mit der Information auf sich, dass es keinerlei Verteidigungsanlagen gab und die Russen einfach so zurückkommen konnten?

    Ja, es gab Verteidigungsanlagen, aber sie waren nicht gut genug.

    Unsere Jungs graben jetzt Tag und Nacht, sie kommen kaum noch nach Hause.

    Heute wurden neue „Drachenzähne“ geliefert; man kann die Jungs auf den Feldern sehen, wie sie graben und die Befestigungen errichten.

    Wir machen uns fertig und gehen zu den Feldern, auf denen ich früher mit dem Fahrrad gefahren bin; ich liebe diese endlosen Felder, auf denen Sonnenblumen, Weizen und Roggen gedeihen. Wenn die Sonne untergeht, scheint sie alles zu Gold zu verwandeln, und man taucht in endloses, güldenes Meer ein …

    „Achtung Minen!“, „Achtung Minen!“, „Achtung Minen!“ – heute befindet sich hier ein Meer an Minen. Die Felder sind eingezäunt, umgeackert und mit den Blumen des Bösen übersät. Unterwegs passieren wir Jungwälder, wir fahren vorbei an Schützengräben, und auf den Feldern sind die Verteidigungsanlagen namens „Drachenzähne“ verstreut, die dem offenen Maul eines riesigen Monsters ähneln, das jeden verschlingen will.

    Aber was ist, wenn dieses Ungeheuer uns alle verschluckt – was und wer bleibt dann noch übrig?

    Ich träume davon, zu einer Zeit nach Hause zurückzukehren, in der es kein Ungeheuer mehr gibt und stattdessen die Sonne, die Sonnenblumen, den Roggen und den Weizen zärtlich streichelt und sie in güldenes Licht taucht.

Olia Fedorova

Харків живе та працює (Charkiw lebt und arbeitet) – dieser Slogan ist jetzt überall in der Stadt zu sehen, auf Plakatwänden und Citylights. Zum ersten Mal tauchte er bereits während der Belagerung auf, gleich nach Beginn der groß angelegten Invasion. Charkiw war damals ziemlich leer und sehr ruhig, und dann zu erleben, dass die Stadt nicht nur überlebt hat, sondern dass ihr Herz genauso aktiv schlägt wie zuvor, war besonders wichtig und eindrucksvoll.

Alle, vom Bürgermeister bis zum Stadtgärtner, haben immer wieder gezeigt, dass Charkiw sehr fleißig ist, hart arbeitet und sich von nichts aufhalten lässt, egal ob es sich um die Instandhaltung wichtiger Infrastrukturen oder die Pflege der Blumenbeete handelt. Eigentlich habe ich einen solchen Fokus auf die Arbeit in keiner anderen ukrainischen Stadt gesehen, irgendwie wurde das zu einer Art Markenzeichen von Charkiw.

Ende 2023 sind viele Menschen zurückgekehrt, Restaurants und Geschäfte, Clubs und Schönheitssalons, Kunstgalerien und Theater, Kinos und Einkaufszentren haben wieder geöffnet – viele Gelegenheiten, um den russischen Angreifern zu zeigen, dass er Charkiw nicht vom Leben (und Arbeiten) abhalten kann.

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    Gewöhnliche Handlungen – der morgendliche Gang ins Café, der Termin beim Friseur oder im Nagelstudio, der Besuch eines Konzerts – wurden zu Manifestationen von Mut und Widerstandskraft, sie verbreiteten sich über die sozialen Medien und dienten den ukrainischen Mitbürgern und den Bewohnern der Stadt selbst als Ansporn und Unterstützung. Das Leben schien zu einer Art „Normalität“ zurückgekehrt zu sein, eine Kriegsversion davon, mit Luftangriffen (bei denen alle Unternehmen ihren Betrieb einstellen sollten, was aber nur wenige tatsächlich tun) und Ausgangssperren. Die Wintersaison verlief nicht allzu schlecht, und irgendwann hatte man das Gefühl, dass die Gefahr von Stromausfällen gebannt und die Vorbereitungen darauf etwas übertrieben waren.

    Doch am 22. März diesen Jahres startete Russland einen der größten Angriffe auf die kritische Infrastruktur von Charkiw seit Beginn des Krieges. Das riesige Kraftwerk, das die Stadt mit Strom versorgte, das zweitgrößte ukrainische Kraftwerk dieser Art, wurde vollständig zerstört. Licht und Heizung waren weg, die Wasserversorgung in einigen Haushalten ebenfalls. Zu der Zeit habe ich den Kontakt zu meiner Mutter und meinen Großeltern für eine Weile verloren, da auch die Mobilfunkverbindung stark beeinträchtigt war. Es ist eines der schlimmsten Gefühle überhaupt, seine Lieben nicht erreichen zu können, während man sich Hunderte Kilometer entfernt in Sicherheit befindet.

    Dieser Tag, der 22. März, markierte den Beginn einer schwierigen Zeit für meine Stadt, die immer noch andauert. Obwohl sich die Lage bei der Stromversorgung einigermaßen stabilisiert hat – Charkiw wird jetzt hauptsächlich von den Nachbarregionen mit Strom versorgt – gehören die planmäßigen Stromausfälle wieder zum Alltag. So schlimm war es nicht einmal im Herbst 2022, damals war Kiew das Hauptziel, während in Charkiw nicht einmal die Straßenbeleuchtung im Stadtzentrum abgeschaltet wurde.

    Jetzt tauchte die Stadt wieder in Dunkelheit ein und das erinnert an die Zeit, als Charkiw wirklich von der Einnahme bedroht war. Diese Erinnerungen, zusammen mit den „Informationslecks“, etwa dass der Kreml 300.000 Mann versammelt, um sie erneut auf Charkiw zu werfen, und den Behauptungen der russischen Behörden, das gesamte Gebiet in eine „Sanitätszone“ (russischer Neusprech, wie z. B. auch „Militärische Spezialoperation“) verwandeln zu wollen, um damit ihre Grenzregionen zu sichern, haben die Stimmung der Menschen nicht gerade positiv beeinflusst. Aber ich würde sagen, auch nicht so, wie es Russland erwarten würde, die Bürger von Charkiw sind eher verärgert und wütend als verzweifelt und in Panik.

    Aufräumarbeiten nach einem russischen Raketenangriff auf Charkiw. Foto: Imago/Vyacheslav Madiyevskyy

    Stellen Sie sich vor, Sie versuchen einfach nur zu leben und zu arbeiten, in einem vom Krieg zerrissenen Land mit einer schwierigen wirtschaftlichen Lage, ganz zu schweigen von der ständigen Bedrohung aus der Luft, und dann müssen Sie Ihr Leben und Ihre Geschäfte an die Stromausfälle anpassen, die je nachdem, ob sie Glück haben oder nicht, vier bis zwölf Stunden dauern. Und zu allem Überfluss hören Sie rund um die Uhr, dass Russland Ihre Stadt in wenigen Wochen, wenn nicht schon morgen, belagern und besetzen wird. Das kann selbst die Härtesten erschüttern.

    Aber die Menschen zu veranlassen, aus der Stadt zu fliehen oder gar von der ukrainischen Regierung zu fordern, dass sie sich auf „Friedensverhandlungen“ einlässt, egal zu welchen Bedingungen, das geht sich definitiv nicht aus, egal was russische Medien behaupten (und leider auch einige westliche Medien, die aus irgendeinem Grund immer noch auf Russland hören).

    Ich vernahm zahlreiche hysterische Schlagzeilen, wie „Massive Staus auf dem Weg aus Charkiw, die Bürger fliehen vor dem russischen Vormarsch“, „In Charkiw ist alles geschlossen“, „Charkiw ist leer, alle sind weggelaufen“ usw. Zuerst musste ich darüber lachen, aber irgendwann wurde es mir zu dumm. Denn als ich meine Familie in Charkiw besuchte, habe ich mit eigenen Augen die Menschenmengen in den Einkaufszentren gesehen, in Cafés, Parks und auch auf den Straßen, und all die Staus, aber innerhalb der Stadt und nicht auf dem Weg hinaus.

    Ich wurde zweimal Zeugin, wie meine Mutter auf einem Messengerdienst Nachrichten von einer unbekannten Nummer erhielt. Es war zu lesen: „Hier spricht die Stadtverwaltung. Aufgrund der drohenden Belagerung raten wir allen Bürgern von Charkiw, die Stadt zu verlassen“. Selbst ohne Richtigstellung durch die echte Stadtverwaltung war klar, dass es sich bei diesen Nachrichten um Fälschungen handelte, die von russischen Trollen verschickt wurden, um Panik zu verbreiten, gleich wie mit den Schlagzeilen.

    Aber bedauerlicherweise haben manche Menschen, die meisten davon außerhalb Charkiws, daran geglaubt, und das hat die Sache noch ärgerlicher gemacht, denn jetzt muss jeder in Charkiw, vom Bürgermeister bis zum Stadtgärtner, ständig versichern, dass die Stadt weiterhin lebt und arbeitet und dass das auch so bleiben wird.

    In Charkiw passt man sich – wie hier die Autorin – an die Stromausfälle an. Foto: Privat

    Unterdessen passt sich Charkiw schnell an die Zeiten ohne Strom an. Die Straßen sind dann sofort erfüllt vom Sound brummender Generatoren, jedes Geschäft hat seinen eigenen, vollgetankt und im Freien aufgestellt. Manchmal merkt man gar nicht einmal, dass der Strom weg ist, alles funktioniert wie gewohnt. Restaurants und Cafés, die zusätzlich „Starlink“-Satelliteninternet-Empfänger haben, bieten sich als Coworking-Spaces für diejenigen an, die zu Hause keine Internetverbindung haben.

    Meine Mutter hat ein kompaktes Kraftwerk in unserer Wohnung, aber sie benutzt es nur, wenn sie dringend ein Gerät braucht (z. B. einen Föhn, falls sie es nicht geschafft hat, die Haare zu trocknen, bevor der Strom ausfiel). Zur Beleuchtung hat sie LED-Girlanden im ganzen Haus, und auch verschiedene Kerzen, die machen es ein bisschen gemütlicher. Und wenn sie etwas mit beiden Händen machen muss benutzt sie eine Stirnlampe. Blackouts am Abend sind übrigens eine Zeit, um zu entschleunigen und sich auszuruhen.

    Man kann wegen der schlechten Verbindung einfach nicht wie gewohnt Stunden in den sozialen Medien verbringen, also schaut man zuvor heruntergeladene Filme, liest ein E-Book oder geht einfach schlafen. Ich kenne Leute, die verbringen die Blackouts mit Live-Musik oder Brettspielen, spielen mit ihren Kindern und Haustieren oder reden einfach miteinander. Es ist eine Art Flashback auf jene Zeiten, in denen die Menschen nicht ständig online waren. Und es ist definitiv nicht das, was Russland von ihnen erwarten würde, es ist definitiv nicht Verzweiflung, Angst und Panik, obwohl die Menschen natürlich erschöpft sind. Dennoch schaffen sie es, auch in derart dunklen Zeiten zu leben und zu arbeiten, und liefern den Beweis dafür, dass Charkiw nicht zu brechen ist.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Sibylle Hamann ist eine österreichische Bildungspolitikerin und Abgeordnete zum Nationalrat (Grüne). Als die Nachricht von ihrem bevorstehenden Besuch in Odessa auf meinem Handy auftauchte, war meine erste Reaktion ein Mix aus Freude und Besorgnis. Die aktuelle Lage in unserer Region hatte sich in den letzten Wochen dramatisch verschlechtert. Was früher nur gelegentliche Drohnen- und Raketenangriffe waren, hatten sich zu bedrohlichen, täglichen Ereignissen entwickelt, bei denen leider auch Menschen zu Schaden kamen.

Viele Politiker hatten daher in diesen Wochen vermieden, nach Odessa zu reisen, aus Angst vor der unsicheren Lage. Umso überraschter war ich, als Frau Hamann schließlich doch ankam. Wir trafen uns in einem gemütlichen Café im Stadtzentrum, zusammen mit ihrem Mann, einem bekannten Journalisten.

Kaum hatten wir uns hingesetzt und überlegt, was wir bestellen wollten, als plötzlich der Alarm losging und Explosionen die Luft erfüllten. Ich zuckte zusammen, wich zurück, aber Sibylles Stimme blieb ruhig. „Ich wusste, worauf ich mich einlasse“, sagte sie gelassen. Es war zu spät, um in den Bunker zu fliehen, also blieben wir im Café, das Licht flackerte, und die Stadt litt unter Stromausfällen, verursacht durch die jüngsten Angriffe auf kritische Infrastrukturen.

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    Sibylle Hamann war besonders interessiert daran, wie es ist, inmitten des Krieges zur Schule zu gehen, wie sich Schüler und Lehrer unter diesen schwierigen Bedingungen fühlen. Ich konnte ihr viel aus eigener Erfahrung erzählen, aber sie wollte auch mit meinen 15-jährigen Schülern sprechen.
    Drei von ihnen waren trotz der Ferien sofort bereit, die Gäste aus Österreich zu treffen. Oleksii, der einige Zeit in Holland und Deutschland verbracht hatte, bevor er wegen der Krankheit seiner Mutter in die Ukraine zurückkehrte. Yulia, deren Eltern beim Militär sind und die oft allein mit ihrem jüngeren Bruder bleiben muss. Und Sofia, die zu Beginn des Krieges mit ihrer Mutter nach Deutschland ging, aber im Herbst 2022 zurückkehrte, um bei ihrem Vater zu sein, der in Odessa auf sie wartete, und um ihren Bruder beizustehen, der an der Front kämpft. Alle drei hatten im März die internationale Prüfung abgelegt, ein Wunder, dass sie überhaupt stattfand.

    Sibylle Hamann (rechts) und Bernhard Odehnal mit der Autorin in Odessa. Foto: Privat

    Am 13. März fanden die schriftlichen Prüfungen zum Deutschen Sprachdiplom/DSD1 weltweit auf der nördlichen Halbkugel statt, auch bei uns im ukrainischen Kriegsgebiet. Kurz vor Beginn der Prüfung erhielten wir eine Warnung vor Raketenangriffen. Meine Schüler waren verzweifelt, sie hatten doch lange auf diesen Tag hingearbeitet. Glücklicherweise wurde die Rakete abgefangen, die Schüler eilten zur Schule, und die Prüfung begann pünktlich im Schutzkeller.

    Frau Hamann hörte sich all diese Geschichten an, und viele andere auch. Sie lobte die Schüler für ihren Mut und ihre Kreativität, ließ aber auch durchblicken, dass sie vermutlich traumatisiert seien. „Kinder des Krieges“, wie sie mir später sagte.

    Sie versprach, über ihre Erfahrungen in Odessa und ihre Treffen in Österreich dem Bildungsministerium zu berichten. Die Reise half ihr auch, die Bedürfnisse der ukrainischen Flüchtlinge besser zu verstehen. Viele Kinder besuchen Schulen in Wien und nehmen digital am Unterricht ihrer ukrainischen Herkunftsschule teil oder erledigen nur Aufgaben. Das Pendeln zwischen zwei Schulkulturen und Lehrplänen ist für die Kinder eine große Herausforderung. Einige Jugendliche können sich nicht so gut integrieren oder wollen das auch nicht, da sie möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren möchten.

    Die Begegnung mit Sibylle Hamann und ihrem Interesse an unserer Situation war eine Erinnerung daran, dass selbst inmitten von Konflikten, Kriegen und Unsicherheit die menschliche Verbindung und das Streben nach Verständnis und Mitgefühl uns verbinden können.

Zhenya Laptii

Ein schwankendes Haus, eine Welt, die vor Deinen Augen in sich zusammenfällt. Woher nimmst Du die Kraft, all das wieder aufzubauen, was zerstört wurde? Woher nimmst Du die Kraft, all das zu ertragen?

Nachts heulen Sirenen durch den Traum, wie das ferne Stöhnen eines Wals auf der Suche nach seiner Gruppe. Deine Aufgabe liegt darin, zu erkennen, woher das Geräusch kommt. Du blickst in die Dunkelheit und suchst den Ort, an dem es brennt.

Vier Uhr morgens. Es ertönt eine Explosion, und Deine Hand greift automatisch nach dem Handy. Gibt es schon Informationen? Es folgt eine weitere Explosion und danach noch eine, sodass die Fenster wackeln. Es muss irgendwo in der Nähe sein.

Ich bin so müde und will nur schlafen. Eine süße Stimme irgendwo weit weg im Innersten meiner Seele spricht zu mir: „Schlaf!“, und ich drehe mich um, hülle mich in meine Decke ein wie in eine eiserne Rüstung, die mich vor den Granatsplittern schützen soll. Am Horizont beginnt ein Traum allmählich Konturen anzunehmen, und schon bald kann ich seine Umrisse erkennen … gleich wird es soweit sein … Eine Explosion, deren Druckwelle das Haus ins Wanken bringt.

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    „Steh auf!“, ruft die verräterische Stimme in mir, die mir eben zuvor noch zuflüsterte: „Schlaf!“

    „Steh auf! Lauf! Versteck dich!“, aber wohin soll ich bloß laufen? Wo verstecken? Der Krieg ist für immer mitten unter uns, wir gehen jetzt Hand in Hand mit ihm, wir sind seine Begleiter.

    Der Alarm heult auf, und Schleim erstickt meine Kehle. Eine Explosion nach der anderen. Wie viele sind es?

    Acht oder elf? Elf oder acht Raketen steuerten genau auf ein Ziel zu, doch was war das für ein Ziel? Es war ein Wohngebäude, ein Kulturzentrum. Den Raketen ist es egal, wo sie einschlagen und mit ihren eisernen Zähnen den Tod bringen. Sie sind hochpräzise, geflügelte Ungeheuer, die nur deshalb durch die Luft fliegen, um uns zu vernichten. Sie kennen kein Mitleid, keinen Schmerz, keine Verzweiflung, keinen Tod. Denn sie selbst sind der Tod – ein von Menschen gelenkter, hochpräziser Tod.

    Wir sind es gewohnt, dass man uns töten will.

    Und nur von Zeit zu Zeit stößt uns diese Erkenntnis bitter auf.

    Die Sirene verstummt … Es ist vorbei. Die Decke wird wieder zu meiner Rüstung. Langsam flackert ein Traum am Horizont auf.

    Das zerstörte Haus, in dem die Kinder starben. Foto: Privat

    Sieben Uhr morgens. Ich stehe auf. Der Boden bewegt sich unter meinen Füßen, und meine Füße graben sich in ihm ein, als ob ich mit ihm verwachsen müsste, damit das Haus nicht einstürzt. Ich spüre, wie sich die Decken und Etagen des mehrstöckigen Gebäudes unter mir bewegen. Ich spüre, wie der Beton knarrt und sich das Metall verbiegt.

    Eine Explosion! Und noch eine und noch eine! Der Boden gibt unter meinen Füßen nach, und alles um mich herum ist mit Angst erfüllt. Es ist eine zähe, ekelerregende Angst, die sich unter meiner Haut breitmacht.

    Vielleicht ist es an der Zeit, nach Österreich zu gehen, in die mächtigen Alpen, die mich vor dieser zerbrechlichen Welt schützen werden.

    Ich bin müde, und wir alle sind müde – von der ständigen Trauer, vom Tod und vom Schmerz. In der Ukraine scheinen wir wie in einem unabänderlichen Kreislauf unentwegt etwas aufzubauen, damit es dann zerstört wird; wir bauen es wieder auf, und es wird erneut zerstört … All das erinnert an den endlosen und leidhaften Kreis von Samsara aus der Welt östlicher Religionen. Mit den Alpen hingegen ist es einfach: Sie stehen für das Leben, sie sind wie das Nirwana.

    Angst, Panik, Verzweiflung – und die Alpen.

    Ein Anruf.

    „Geht’s Dir nicht gut?“

    „Ja, warum?“

    „Bei Dir in der Nähe hat es eingeschlagen“, sagt eine Männerstimme in den Hörer.

    Als ob mich das aufmuntern würde, wenn ich weiß, dass etwas in meiner Nähe eingeschlagen hat. Das Wissen, wo etwas niedergegangen ist, stellt keine Erleichterung dar.

    Erst später erfahre ich, dass Kinder gestorben sind. Und auf einmal pocht mein Herz voller Angst.

    Danach sehe ich das Haus, in dem die Kinder umgekommen sind. Es ist ein Haus, das von innen nach außen gestülpt ist und in dem es noch raucht. Mein Herz krampft sich vor Schmerz zusammen. Ein Kind ist an einer Kletterwand gestorben. Der Kreis des Todes wird enger.

    Elf Uhr abends. Eine Explosion jagt die nächste. Und schon wieder dreht sich alles im Kreis: der Hausflur, das Handy, welche Geschosse durch die Luft fliegen und wohin sie fliegen.

    Die Puschkin-Straße heißt jetzt Skovoroda-Straße. Endlich hat man sie umbenannt, nachdem eine russische Rakete ein Haus zerstört und die Straße in Trümmer gelegt hat. Das ist die Straße aus den Jahren meiner Studienzeit, als ich fünf Jahre lang jeden Tag über die Puschkin-Straße (heute Skovoroda-Straße) zur Universität gegangen bin. Es gab dort eine Bäckerei, in der köstliche französische Croissants gebacken wurden, ein Café, in dem aromatischer Kaffee gebrüht wurde, und einen Imbissladen, in dem es die besten Falafel in Charkiw gab. Wo ist das alles jetzt hin? Es wurde von Raketen ausgelöscht. Jeden Tag tauchen neue blutige Spuren und neue zerstörte Häuser auf dem Stadtplan auf.

    Und irgendwo in Russland feuern die Hände irgendwelcher Menschen jeden Tag diese Raketen ab. Das ist ihr Job.

    Der Alltag des Bösen.

    Übersetzung: Arno Wonisch

    Leisten Sie einen Beitrag zum Wiederaufbau der zerstörten Ukraine: www.dobrobat.in.ua

Karina Beigelzimer

Der Februar dauert in der Ukraine schon zwei Jahre. Selbst in den heißesten Tagen spürt man die Kälte des Krieges, und viele Menschen sind wie eingefroren. Als Journalistin und Lehrerin erlebe ich die Herausforderungen dieses andauernden Krieges gefühlt noch viel stärker als viele andere, quasi aus erster Hand.

Die Müdigkeit ist mein ständiger Begleiter, während die Angst mich von Zeit zu Zeit unangenehm durchdringt. Doch ich habe gelernt, damit umzugehen, indem ich aus meiner Komfortzone heraustrete, um dann das zu tun und zu spüren, wovor ich früher Angst hatte. Inmitten von Unsicherheit versuche ich, einen Funken Normalität zu bewahren.

Die Situation an der Front ist sehr schwer, und viele Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen unser Land und die europäische Demokratie mit ihrem Leben. Als Journalistin berichte ich oft über die Geschichten der Menschen, die mit diesem Krieg verstrickt sind. Meine „Feder“ wird zur Stimme der Stummen, während ich versuche, die Welt auf die Realitäten hier aufmerksam zu machen. Jeder Artikel, jede Veröffentlichung, jede Sendung ist ein Versuch, die Wahrheit ans Licht zu bringen und Veränderung herbeizuführen.

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    Manchmal habe ich Angst, dass ich nicht gehört werde, denn die ganze Welt ist müde vom Krieg. Dann arbeite ich noch intensiver, um den Schlüssel zu den Herzen meiner Leser und Hörer zu finden. Besonders schwer ist es, wenn ich mit den Soldaten spreche oder mit den Menschen, die ihre Verwandten oder Häuser verloren haben. Jede solcher Geschichten hinterlässt eine Narbe auf meiner Seele.

    Als Lehrerin versuche ich den Kindern zu vermitteln, dass es wichtig ist, trotz der widrigen Umstände zu lernen, aber dabei das Träumen nicht zu verlernen. Wir nehmen an verschiedenen internationalen Projekten teil, was die Schüler für kurze Zeit den Krieg vergessen lässt. Manchmal sitzen wir stundenlang im Schutzkeller. Und obwohl mich das sehr nervös macht, versuche ich es nicht zu zeigen. Es tut mir unglaublich weh, dass ein wahnsinniger Diktator ihre Kindheit zerstört. Oft kommen meine Schüler nach schweren, schlaflosen Nächten traurig in die Schule und erzählen über ihre Ängste. Dann ist es wichtig, sehr schnell einen Weg zu finden, wie ich sie trösten kann. Vor kurzem postete ich auf Instagram ein Foto eines zerstörten Hauses. Keine 20 Minuten später schrieb mir meine Schülerin Valeria: „Das war mein Haus“. Ihre Familie hat überlebt, ihre Nachbarn wurden schwer verletzt, zwei Menschen starben. Jetzt wohnt das Mädchen in einem anderen Teil der Stadt in der Wohnung ihrer Verwandten.

    Ukrainische Soldaten nahe der Stadt Awdijiwka, aus der sich die ukrainische Armee Mitte Februar zurückgezogen hat. Foto: Imago/Madeleine Kelly

    Meine Schüler fragen nicht mehr, wann der Krieg zu Ende ist. Die jüngere Generation leidet unter schweren seelischen Belastungen. Ein Beispiel hierfür ist Sofia, deren Bruder an der Front kämpft. Mit ihren 14 Jahren überprüft sie alle 10 Minuten ihr Handy, in der Hoffnung, eine Nachricht von ihm zu erhalten, denn das wäre ein Zeichen dafür, dass er noch am Leben ist.

    In unserer Schule gibt es auch Kinder, die 2022 aus den umkämpften Gebieten Mariupol und Cherson nach Odessa geflohen sind. Die Geschichten, die sie erzählen, sind erschütternd und lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Raketenangriffe, Verletzungen, zerstörte Häuser und der Verlust von Angehörigen sind nur einige der schrecklichen Dinge, die sie erlebt haben.

    Aber in all dem Leid gibt es dennoch Hoffnung: Kinder bleiben Kinder. Trotz der extremen Widrigkeiten lernen sie, immer wieder zu lächeln. Es ist bewegend, ihre Fähigkeit zur Freude zu sehen, trotz der Schatten des Krieges. Wir müssen uns als Gesellschaft bemühen, Unterstützung zu bieten, um diesen Kindern Hoffnung zu geben und ihre Resilienz zu stärken, damit sie trotz der schrecklichen Erfahrungen eine positive Zukunft nach dem Krieg aufbauen können.

    Kleine Schritte im hohen Tempo sind meine Überlebensstrategie. Im Krieg ist das Planen schwierig, aber wenn etwas gelingt, durchströmt mich eine riesige Freude. Vor kurzem konnte ich für ein paar Tage nach Stuttgart fliegen, um an einer Konferenz teilzunehmen. Ich ging durch die Stadt und sah die Menge von Menschen. Das erinnerte mich an meine Heimatstadt vor dem Krieg. Ich sah viele glückliche Gesichter. Das war ansteckend. Aber leider nur für kurze Zeit. Sobald ich wieder in Odessa war, gab es einen Drohnenangriff auf die Stadt. Ich saß im Flur mit meinem unausgepackten Koffer. Und um mich abzulenken, erinnerte ich mich an die schönen Tage in Deutschland. Der Krieg hat mich gelehrt, die kleinen Glücksmomente zu schätzen und im Chaos Ordnung und Stabilität zu finden.

    Ich frage mich oft, wie lange dieser Februar noch dauern wird, wie viele Menschen noch einfrieren werden. Aber in meiner kleinen Welt hier versuche ich, trotz der Kälte das Feuer der Hoffnung am Brennen zu halten. Denn auch wenn der Krieg fortdauert, gibt es immer noch Raum für kleine Triumphe und Zeichen des Lebens.

Olia Fedorova

Die Ukraine ist nun seit zwei Jahren vom Krieg durchzogen, und seit mehr als einem Jahr lebe ich als Flüchtling in Österreich. Die Adrenalinphase jener Monate, in denen ich in Charkiw ums Überleben kämpfte, und der darauf folgende „Adrenalin-Kater“ meines ersten halben Jahrs im Exil sind vorbei.

Die inneren Stürme haben sich gelegt, oder besser gesagt, mein „Schiff“ hat schlussendlich gelernt, im ständigen Seesturm zu leben, und damit hat sich Raum für eine gewisse Selbstreflexion eröffnet.

Ich habe das Gefühl, dass nicht nur ich, sondern viele Ukrainer, vor allem diejenigen im Ausland, aber auch jene, die in einigermaßen sicheren Situationen verblieben sind, in letzter Zeit vermehrt darüber nachdenken, was der Krieg mit uns bis jetzt gemacht hat, wo wir stehen und wie unsere Zukunft aussehen wird. Was bedeutet es, im Jahr 2024 Ukrainerin oder Ukrainer zu sein?

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    Für mich bedeutet es, immer Angst zu haben. Ja, das mag überraschend klingen. In diesen zwei Jahren ist unser Land zu einer Art Synonym für Furchtlosigkeit geworden, mit Symbolfiguren wie einem unbewaffneten Mann, der Panzer aufhält, oder einer Frau, die mit einem Glas eingelegter Tomaten eine Drohne abschießt.

    Auch ich habe die ganze Zeit über versucht, mutig und stark zu wirken und Menschen um mich herum beizustehen, die sich schwach fühlten, und auch Menschen im Ausland zu bestärken, bitte nicht aufzuhören, mein Land in seinem Kampf zu unterstützen. Vor allem aber habe ich versucht, mich nicht verrückt machen zu lassen, mich nicht von der Verzweiflung überwältigen zu lassen und dann in Hilflosigkeit zu erstarren. Früher, vor Beginn des  alles erfassenden Kriegs,  habe ich, wie wahrscheinlich viele Menschen auf der Welt, Angst als etwas sehr einfach zu Erklärendes, Eindeutiges betrachtet; als eine Schwäche, als etwas, das man loswerden muss, um Erfolg zu haben.

    Nach allem, was ich durchgemacht habe, ist mir klar geworden, dass Angst Tausende von Schattierungen hat. Aber egal welche Schattierung, oft glauben wir, uns dafür schämen zu müssen, und so versuchen wir, die Angst zu unterdrücken und vor anderen Menschen zu verbergen.

    Manche mögen vielleicht denken, dass das Eingeständnis – und darüber zu sprechen! – , dass wir Ukrainer tatsächlich Angst haben, SEHR VIEL Angst, für Enttäuschung und Niedergeschlagenheit bei unseren Verbündeten sorgen wird. Sie könnten sagen, dass gerade die ukrainische Furchtlosigkeit, dieser symbolische Mann, der mit bloßen Händen Panzer aufhält, und die symbolische Frau, die eine Drohne mit einem Einmachglas abschießt, die Welt überzeugt haben, die Ukraine zu unterstützen sowie die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges förderten, an den die Wenigsten glaubten. Und jetzt könnten sie sagen, nachdem ans Licht gekommen ist, dass die Ukrainer auch Angst haben, kann die Welt erkennen, dass ihr eigentlich… nur Menschen seid?

    Ukrainische Soldaten tragen den Sarg der gefallenen Sanitäterin Diana Wagner. Foto: Imago/Kaniuka Ruslan

    Ich muss gestehen, dass ich früher genauso dachte. Und wie ist es heute, nachdem die Gegenoffensive, auf die so viele ihre übertriebenen Hoffnungen gesetzt haben, der Ukraine und ihren Verbündeten keinen schnellen und glorreichen Sieg gebracht hat, nach all den Diskussionen darüber, ob es einen Konflikt zwischen unserem Präsidenten und dem Oberbefehlshaber gibt, und ob nicht alle müde sind und nicht mehr kämpfen wollen?

    All das lässt mich manchmal denken, dass die Welt tatsächlich dazu neigt, nur Helden zu unterstützen, nur das „absolut Gute“, das makellos ist und immer gewinnt. Und sobald die Helden scheitern, sobald sie sich abmühen müssen und Fehler machen, sobald sie zeigen, dass sie eigentlich auch Angst haben, verzweifelt sind, die Zuversicht verlieren, da kommen Zweifel auf: Sind sie es überhaupt wert, unterstützt zu werden? Denn bis zu diesem Moment war es so klar, wer auf der „hellen Seite“ und wer auf der „dunklen Seite“ stand, wer die „Elfen“ und wer die „Orks“ waren. Aber jetzt, jetzt ist es nicht mehr so eindeutig? Manchmal hat man das Gefühl, dass es für Helden viel akzeptabler ist, tot zu sein, als „unvollkommen“ oder „schwach“.

    Aber ich denke, dass es in diesen schweren Zeiten, die wir durchleben, wo der Krieg schon so lange andauert und die Euphorie der ersten Erfolge verflogen ist, viel wichtiger ist, die Welt, und auch uns Ukrainer und mich selbst daran zu erinnern, dass wir es nicht mit einem Film oder einer Fernsehserie zu tun haben. Und dass wir alle nur Menschen sind, die vielleicht Angst haben und verzweifelt sind, die nicht ständig die Helden spielen können, um etwas Mitgefühl hervorzurufen. Und die sich manchmal nur wünschen, in Ruhe gelassen zu werden. Aber die es genauso verdienen, zu leben und in ihrem Lebenswillen unterstützt zu werden.

    Und gerade das ist es, was die Ukrainer verteidigen, dieses sehr grundlegende Menschenrecht und diesen sehr einfachen, menschlichen Wunsch zu leben, als Mensch. Und es war natürlich nicht so, dass die Ukrainer nach dem Beginn des Krieges mit einem Schlag alle Angst losgeworden sind oder dass sie überhaupt keine Angst mehr gehabt hätten, sondern es war so, dass die Wut über Russlands Unverschämtheit und die Missachtung unserer legitimen Rechte das Maß an Angst, das jedem Menschen innewohnt, in einem bestimmten Moment überschritten hat.

    Eine der ersten poetischen Botschaften, die ich Tage bevor die ersten Bomben auf meine Heimatstadt fielen, schrieb, war: „Ja, ich habe Angst. Aber ich bin auch verdammt wütend!“ Dieser Satz ist immer noch auf einer Postkarte im Office Ukraine Graz zu finden, ich habe ihn damals direkt aus dem Luftschutzkeller in Charkiw zum Druck geschickt.

    Damals habe ich mich aufs Nachdenken über jene Wut konzentriert, die in dir aufsteigt, wenn deine Menschenrechte verletzt werden, und die dir dabei hilft, für diese Rechte zu kämpfen. Jetzt ist es an der Zeit, auch über die Angst nachzudenken, meine eigene, die meiner Familie, meiner Freunde, meines Volks. Angst, die alle Menschen haben und in der wir uns als Menschen gleich sind.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Krieg und Umwelt: Wenn ich durch die Natur gehe, höre ich ihren stummen Schrei. Die Hinterlassenschaften abgeschossener Drohnen und Raketen, die Granaten der Panzer und der Ausstoß von Abgasen setzen selbst Pflanzen und Bäumen massiv zu. Das alles und noch viel mehr, was der Krieg täglich an Schadstoffen ausstößt, belastet nicht nur die Menschen im Kriegsgebiet. Es macht die gesamte Natur zu unschuldigen Opfern, die sich nicht dagegen wehren können.

An vielen Orten werden die Lebensbedingungen für uns Menschen und auch für die Natur unerträglich. Wasser und Böden werden auf viele Jahre verseucht. Was wird das für langfristige Auswirkungen für unsere Ernährung haben?

Das ukrainische Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen verbreitete kürzlich die Schreckensnachricht, dass bereits 20 Prozent der Schutzgebiete des Landes betroffen sind. Munitionsrückstände, Landminen und sonstige Überreste kriegerischer Handlungen vergiften Böden und Grundwasser mit Schwermetallen und sonstigen Giftstoffen, die Jahrzehnte brauchen, bis sie wieder abgebaut sind.

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    Besonders besorgniserregend ist für mich die Situation der marinen Ökosysteme im Schwarzen Meer, dessen Küsten unsere Stadt schmücken. Nach jedem Angriff auf die Infrastruktur unseres Hafens und der dort vor Anker liegenden Schiffe, kann ich nicht nur die an ihnen angerichteten Schäden sehen, sondern auch, wie sich die Farbe des Wassers durch die ausgelaufen giftigen Substanzen verändert. Ölprodukte spielen dabei eine verheerende Rolle. Sie beeinträchtigen die marine Biozönose. D. h., sie stören den natürlichen Austausch von Energie, Wärme, Feuchtigkeit und Gasen zwischen Meer und Atmosphäre.

    Die Katastrophe spielt sich nicht nur über der Wasseroberfläche ab. Schlimmer scheint es noch darunter zu sein. Kürzlich las ich die alarmierende Meldung, dass bereits 5.000 Delfine im Schwarzen Meer aufgrund dieser Kontaminationen verendet sind. Die Dunkelziffer könnte noch höher liegen, da viele Opfer unbemerkt auf den Meeresgrund sinken. Dieses Massensterben hat nicht nur ökologische, sondern auch emotionale Auswirkungen, auf mich und auf viele Bewohner unserer Stadt.

    Ivan Rusev, ein promovierter Biologe, berichtet von der traurigen Entwicklung, dass das Schwarze Meer, einst voller Leben, nun oft zu einem Friedhof für Delfine wird. Die Strafverfolgungsbehörden in Odessa ermitteln wegen des Massensterbens. Doch ich denke, ihre Rettung kann nur ein Ende des Krieges und der Rückzug der russischen Kriegsschiffe bringen.

    Doch nicht nur das Meer leidet unter den Folgen des Krieges, auch wir, die Einwohner Odessas leiden tagtäglich darunter. Unsere Stadt, einst stolz auf ihre saubere Luft, belegt nun den dritten Platz im Ranking der ukrainischen Städte mit der am stärksten verschmutzten Luft. Die modernen Waffen verursachen nicht nur gigantische Explosionen. Sie enthalten auch eine Vielzahl giftiger Chemikalien. Die Aerosole werden vom Wind viele Kilometer weit getragen und von Menschen selbst in fernen Regionen eingeatmet. Ärzte schlagen Alarm, die Atemwegserkrankungen in Odessa haben sich vervielfacht. Die mit Hunderten Tonnen Treibhausgasen belastete Luft schadet Mensch und Natur und verstärkt zudem rasant den Klimawandel.

    Die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt sind enorm. Foto: Privat

    Panzer und Raketen sind furchterregend, aber ihre unsichtbaren Emissionen sind nicht weniger bedrohlich. Eine aktuelle Studie verdeutlicht, dass Russland in den anderthalb Jahren seines Angriffskriegs gegen die Ukraine, zusätzlich zu seinem normalen Ausstoß, durch den Krieg so viele klimaschädliche Gase freigesetzt hat wie ein industrialisiertes Land wie Belgien in einem ganzen Jahr. Ein internationales Forscherteam unter Leitung von Lennard de Klerk hat etwa 150 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente berechnet. CO₂, durch sie freigesetzt, heizt den Planeten weiter auf. Eine bittere Realität, die den Klimawandel nicht nur beschleunigt, sondern auch neue Dimensionen von Umweltkrisen eröffnet.

    Im Juni 2023 setzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein wichtiges Zeichen, indem er die Gründung einer „High Level Working Group on Environmental Damage of War in Ukraine“ initiierte. Unter der Leitung von Andrij Jermak dem Chef des ukrainischen Präsidialamts, und der schwedischen Politikerin sowie ehemaligen EU-Umweltkommissarin Margot Wallström hat diese Arbeitsgruppe drei zentrale Ziele: die gründliche Untersuchung der entstandenen Schäden, die Suche nach Mitteln, um Russland zur Verantwortung zu ziehen, und die Entwicklung von Ansätzen für einen nachhaltigen, klimafreundlichen Wiederaufbau der Ukraine.

    Die ukrainische Bevölkerung unterstützt uneingeschränkt die Regierung, die sich aktiv dafür einsetzt, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, dass ein Teil der in westlichen Ländern eingefrorenen russischen Vermögenswerte von 300 Milliarden US-Dollar freigegeben wird. Diese Mittel sollen langfristig für den Wiederaufbau und die Beseitigung der Umweltschäden verwendet werden – ein Zeichen der Hoffnung inmitten der dunklen Schatten des Krieges.

    Möge die Stille der leidenden Natur durch die Bemühungen um Heilung und Wiederaufbau durchbrochen werden.

Olia Fedorova

Dieser zweite Winter des umfassenden Kriegs fühlt sich anders an. Man kennt die russische Taktik des Bombardierens ziviler Infrastruktur, die die Menschen in die Verzweiflung treiben soll, bereits gut.

Und das Land hat seine Luftabwehrsysteme das ganze Jahr über gründlich vorbereitet und dabei die bitteren Erfahrungen des letzten Winters nicht außer Acht gelassen. Von den Alliierten kamen mehr Waffen, die die Städte vor Raketen und Drohnen schützen sollen, aber auch ein paar neue Ansätze wurden aufgegriffen.

Zum Beispiel mobile Brigaden, die „Shakhed“-Drohnen jagen und sie mit billigeren und schnelleren Mitteln ausschalten. Im Grunde handelt es sich dabei schlicht um Geländewagen, die mit Maschinengewehren und mobilen Flugabwehrsystemen ausgestattet sind. Die Wirksamkeit des Vorbereiteten wurde bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Bei jedem neuerlichen Angriff schoss die Luftabwehr die allermeisten Raketen ab, und in letzter Zeit wurde die sehr gute Trefferquote bei den Abschüssen zur Routine, auch wenn es natürlich immer noch Schäden und Verletzte gibt.

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    Die Situation in Charkiw ist für mich als jemand, der den Beginn des Krieges dort miterlebt hat, auf seltsame Weise faszinierend. Im letzten Frühjahr war mein Wohnviertel Saltiwka der gefährlichste Ort in der Stadt, weil es ständig mit Kurzstreckenraketen beschossen wurde, die die feindliche Armee in den besetzten nordöstlichen Vororten installiert hatte. Aber nachdem sie im Mai 2022 zurückgedrängt wurde, konnte sie fortan Charkiw nur noch von jenseits der Grenze aus mit Raketen und Drohnen angreifen, die eine größere Reichweite haben. Diese fliegen nun über Saltiwka hinweg, um irgendwo näher am Stadtzentrum oder in südwestlichen Stadtvierteln niederzugehen.

    So hat sich das Blatt gewendet, jetzt fühlt sich meine Familie sicherer als in irgendeinem anderen Stadtteil, wenn sie in Saltiwka nach Hause geht (es leben alle, meine Mutter und zuvor auch ich, meine beiden Großeltern und unsere nahen Verwandten, in verschiedenen Teilen dieses sehr großen Viertels). Die Charkiwer witzeln darüber, dass endlich die Zeit gekommen ist, in der die meisten Menschen aus dem Stadtzentrum raus und nach Saltiwka ziehen wollen. Zwar sind die Sirenen dort immer noch ständig zu hören, ebenso die Explosionen, aber diese sind immer sehr weit entfernt. Die Leute sagen, „es ist nicht einmal der Mühe wert, in den Korridor zu gehen“.

    Bild der Zerstörung in Charkiw nach einer russischen Drohnenattacke. Foto: AFP/Sergey Bobok

    Auch die Zivilbevölkerung ist besser vorbereitet als im letzten Jahr, hat gelernt, den Alltag im Falle eines kompletten Stromausfalls mit viel weniger Stress zu bewältigen. Man weiß, wie viel Strom jedes Gerät verbraucht, wie man mit weniger Wasser für die Hygiene, das Geschirrspülen und die Wäsche auskommt, wie man im Dunkeln arbeitet. In einer lokalen Kochshow gibt es Wettbewerbe zum Thema Kochen ohne Strom, Lebensmittelkonservierung und abfallfreie Küche! Außerdem ist natürlich jeder Ukrainer im Umgang mit Generatoren, tragbaren Powerstations und sonstigen Geräten zum Stromspeichern geübt und viele auch entsprechend ausgestattet.

    Andererseits scheint dieser Winter für die Ukraine sehr viel schwieriger zu werden, was die moralische und psychologische Widerstandsfähigkeit betrifft. Nicht nur, weil sie es leid sind, unter ständiger Todesbedrohung zu leben. Die Erschöpfung, der Mangel an klaren Fortschritten an der Front, während die militärische Hilfe aus dem Westen viel langsamer eintrifft als nötig und in dem Zusammenhang die Unkenntnis darüber, wie lange dieser Krieg noch dauern wird.

    Das Kharkiv-Palace-Hotel, in dem etwa ausländische Journalisten residierten, wurde von einer russische Rakete getroffen. Foto: AFP/Sergey Bobok

    Bei vielen der jüngsten Wahlen ging es auch um die Frage, ob die militärische Hilfe für die Ukraine fortgesetzt oder gekürzt werden soll. Laufend erschienen Artikel über das „Scheitern“ der ukrainischen Gegenoffensive. Schrille Schlagzeilen, aber dennoch demotivierend für diejenigen, die nicht das Privileg haben, sie in Sicherheit lesen zu können. Das Zögern, die unschlüssige Zurückhaltung der westlichen Politiker, das Wissen darum, dass Russland das alles sieht und sich seines ungestraften Tuns immer sicherer wird, und natürlich die internen Skandale und politischen Spielchen, die es schon immer gab, die aber während des Krieges als viel bedeutender und verheerender empfunden werden. Das alles führt dazu, dass viele Ukrainer verzweifelt sind und sich verraten fühlen.

    Dennoch sind die Ukrainer nicht bereit, zu kapitulieren, Gebiete und Menschen, die dort leben, aufzugeben und allem zuzustimmen, was Russland fordert, nur um diesen Albtraum zu beenden. Sie wissen genau, dass ein solcher „Frieden“ nicht lange halten würde. Dass alles wieder von vorne beginnt, sobald Russland sich von den Schäden erholt und seine Macht wiederhergestellt hat. Ich denke, der vorherrschende Gedanke ist jetzt nicht „Wenn es so weitergeht, müssen wir aufhören zu kämpfen und kapitulieren“, sondern eher „Wenn es so weitergeht, müssen wir alleine weiterkämpfen, und es kann sein, dass wir alle umkommen“.

    Es tut gut zu wissen, dass mein Land unter keinen Umständen kapitulieren, die unter der Besatzung verbliebenen Menschen dem Feind ausliefern und das Andenken an diejenigen verraten wird, die ihr Leben für seine Freiheit gegeben haben. Dennoch macht es mir große Angst, dass all das Leid, das wir in den letzten zwei Jahren erlitten haben, umsonst gewesen sein könnte – nicht wegen mangelnder Anstrengung und fehlendem Willen, sondern wegen Dingen, die außerhalb unserer Möglichkeiten liegen. Und während ich versuche, diese Angst zu überwinden und stark zu bleiben, wie früher, wird es von Tag zu Tag schwieriger.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Um sich ein weiteres Mal deutlich von Russland zu distanzieren, hat die Ukraine das orthodoxe Weihnachtsfest vom 7. Jänner auf den 25. Dezember verlegt und sich damit dem westlichen Kirchenkalender angeglichen.

In meiner Stadt, deren einst strahlende Straßen von Weihnachtsmärkten und Lichterketten erhellt wurden, herrscht in diesem Jahr keine festliche Stimmung. Der Krieg hat nicht nur Gebäude in der Region beschädigt. Er hat auch die vorweihnachtliche Atmosphäre gestohlen. Die Gegenoffensive im Sommer blieb wegen des anhaltenden Mangels an Waffen erfolglos. In Odessa und vielen anderen Städten der Ukraine wird hitzig diskutiert: Können wir Weihnachten feiern und einen Moment das Leben genießen – oder müssen wir uns sich dem Ernst der Lage hingeben und im Dunkeln verharren?

Diese Fragen werden inmitten des Krieges zu einer sehr persönlichen Entscheidung. Beide Positionen sind verständlich: Die derjenigen, denen angesichts des Leids und der Zerstörung absolut nicht nach Feiern zumute ist. Aber auch die derjenigen, die sich dafür entscheiden, das Weihnachtsfest zu feiern. Denn solche Feiertage sind eine Möglichkeit, nach vielen Monaten ein wenig auf andere Gedanken zu kommen und Abwechslung in den tristen Kriegsalltag zu bringen. Unsere weihnachtlichen Traditionen können den Menschen Stabilität und Sicherheit geben, Trost und Hoffnung spenden.

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    Trotz der allgegenwärtigen Trübsal versuchen viele, das zweite Weihnachten im Krieg zu einem Lichtblick zu machen. Die Residenz des Heiligen Nikolaus erstrahlt zwar nicht im gewohnten festlichen Glanz, doch für die Kinder ist sie eine Oase der Hoffnung. Hier können sie Briefe an den Nikolaus richten, an die tapferen Soldaten an der Front schreiben oder an Kinder in anderen Städten, mit denen sie ein ähnliches Schicksal teilen. Ein großzügiger Geschäftsmann schenkte der Hauptstraße einen prächtigen Weihnachtsbaum, der das Zentrum für kleine Konzerte und Kunstausstellungen bildet. Große Massenveranstaltungen sind aber aus Sicherheitsgründen verboten.

    Weihnachtspartys und opulente Geschenke haben in diesem Jahr nicht oberste Priorität. Der Krieg hat Tausende das Leben gekostet. Viele Familien in der Ukraine sind gezwungen, das Fest außerhalb ihrer beschädigten oder ganz zerstörten Häuser zu verbringen. Dennoch zeigt eine Umfrage, dass etwa 70 Prozent der Ukrainer einen Teil ihres Weihnachtsbudgets für die Armee spenden möchten. In Schulen von Odessa verkauften Kinder selbst gebackene Weihnachtskuchen und bastelten Girlanden, um Geld für die Soldaten zu sammeln.

    Ein Geschäftsmann spendete einen Weihnachtsbaum für Odessa. Foto: Privat

    In dieser schwierigen Zeit gibt es Geschichten, die trotz allem den Glauben an das Gute bewahren. Die Geschichte des siebenjährigen Max ist eine davon. Sein Vater dient an der Front, und der Junge ist überzeugt, dass er zu Weihnachten nach Hause kommen wird. Jeden Tag schreibt Max einen Brief an den Nikolaus und bittet um das Wunder, dass sein Vater sicher und gesund zurückkehrt. Seine Mutter unterstützt diesen Glauben, erzählt Geschichten von tapferen Soldaten, die zu Weihnachten nach Hause kommen. Inmitten von Krieg und Unsicherheit ist dieser Glaube für den kleinen Jungen ein Lichtblick und ein Anker der Hoffnung.

    Irina, seine Mutter, sagt entschlossen: „Es sind schwierige Zeiten, aber Weihnachten muss trotzdem sein.“ Ihr Geschenk für ihren kleinen Sohn ist eine Lego-Box – eine Geste der Normalität in einer Zeit der Unsicherheit. „Wir versuchen, das Beste daraus zu machen und wegen des Krieges nicht zu deprimiert zu sein“, erklärt sie. „Ich möchte, dass das Kind die festliche Atmosphäre spürt.“

    In den Schulen von Odessa verkaufen Schulkinder selbstgebackenen Kuchen, um Geld für die Soldaten zu sammeln. Foto: Privat

    Genauso wie Irina denkt auch meine Nachbarin Ruslana. Trotz des Krieges und seiner schmerzhaften Auswirkungen entscheidet sich ihre Familie, Weihnachten zu feiern. Für die neun- und fünfjährigen Töchter sind die festliche Stimmung und die Geschenke nach fast zwei Jahren Krieg eine unverzichtbare Aufmunterung. Die weihnachtlichen Feierlichkeiten beginnen mit dem traditionellen Fastenmahl, Kutya, einer Mischung aus Weizen oder Gerste, Rosinen, Nüssen, Honig, Mohn und getrockneten Früchten, was Einheit und Hoffnung symbolisiert. Das Essen darf erst beginnen, wenn der erste Stern am Himmel erscheint.

    Mit einem trotzigen Lächeln erklärt meine Nachbarin, dass ihre Familie, sollte Fliegeralarm ertönen, in den fensterlosen Flur flüchten wird – der sicherste Ort in der Wohnung. „Wir nehmen Kerzen, Essen und Geschenke mit, falls es nötig sein sollte“, sagt Ruslana. In diesen schwierigen Zeiten wird Weihnachten in Odessa zu einem Symbol der Hoffnung, des Glaubens an das Gute und der Solidarität. Trotz der Dunkelheit des Krieges versuchen die Menschen, das Licht der festlichen Jahreszeit zu bewahren und ihren Kindern ein Stück Normalität und Freude zu schenken.

Zhenya Laptii

Wenn mir Menschen mit von Entsetzen erfüllten Augen die Frage stellen: „Wie kannst Du denn bloß dort leben, wo Krieg herrscht?“, gebe ich stets die gleiche Antwort: „Je weiter man sich von der Front entfernt, desto schrecklicher erscheint der Krieg.“

Die Kluft des Unverständnisses zwischen denjenigen Ukrainerinnen und Ukrainern, die gegangen sind, und jenen, die geblieben sind, zwischen Militärs und Zivilistinnen und Zivilisten sowie zwischen denjenigen, die unter der Besatzung leben, und jenen, die das Glück hatten, zu entkommen, wird immer größer.

Das ist unsere Kluft, die wir überbrücken müssen, damit die Ukraine weiterexistieren kann; es ist eine Kluft, die wir überwinden müssen, damit unsere Kinder eines Tages nicht mehr wissen, was Krieg bedeutet.

Aber unsere Kinder tragen inzwischen bereits zu viel Wut in sich, die sich früher oder später ihren Weg nach außen bahnen wird.

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    Das Dorf Hussariwka in der Gemeinde Balaklija war früher sehr wohlhabend und prosperierend. Es gab große Bauernhöfe mit 2000 Stück Vieh, endlose Weizen- und Sonnenblumenfelder, und das Dorf schien ein eigenes kleines Fleckchen Erde innerhalb eines großen Landes zu sein, in dem sich jeder Mensch um seine Angelegenheiten kümmerte und sich für die Gemeinschaft einsetzte. Leider hatte ich nicht das Glück, Hussariwka in einem solchen Zustand vorzufinden, wobei ich mir eine wie soeben beschriebene Idylle durchaus vorstellen kann, wenn ich den Geschichten der Einheimischen zuhöre. Jetzt ist Hussariwka eine einzige offene Wunde und übersät mit nicht explodierten Granaten, obwohl das Dorf und seine Umgebung bereits vor dem Umland von Kiew von den russischen Invasoren befreit wurde.

    Man könnte also sagen: Hussariwka ist die erste befreite Gemeinde in der Ukraine, und man weiß auch, wie viele ukrainische Soldatinnen und Soldaten hier ihr Leben ließen und wie viele Einheimische getötet und gefoltert wurden, weil sie einfach nur ihre Tiere retten wollten. Eines Abends machten sich einige Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes auf den Weg, um die Kühe zu füttern, die in den abgeschlossenen Ställen vor Hunger brüllten. Sie kehrten nicht zurück. Später fand man ihre verkohlten und enthaupteten Leichen. Man könnte noch viel genauer darüber berichten, denn immerhin gilt es, immer daran denken zu denken, welchen Preis wir für jeden Zentimeter befreites Land zu bezahlen haben.

    Ich treffe auf Ehor, einen Burschen von 14 oder 15 Jahren, der stolz mit seinem Moped protzt: „Lass uns mit dem Motorrad fahren“, sagt er fröhlich. Ich setze mich auf den Beifahrersitz, und wir eilen zu den Bauernhöfen, die den ersten Ort auf unserer „Tour der Kriegsspuren“ bilden.

    In den zerschossenen Lagerhallen verfault das Getreide. Foto: Privat

    Als wir uns den Höfen nähern, können wir den Gestank bereits riechen, und die sengende Sonne macht ihn nur noch schlimmer. Die riesigen Getreidehallen ähneln dem Maul eines Wals, der alles um sich herum zu verschlingen scheint, und auch wir begeben uns in den Bauch eines dieser Kolosse. Alles ist undicht und die Wände mit Hunderten von Löchern übersät, durch die das gleißende Sommerlicht in die Halle dringt und ein sonderbares Szenario erzeugt. Über uns scheint sich der Nachthimmel zu erstrecken, doch sind wir in Wirklichkeit in einer Halle und der Gestank hier herinnen ist erdrückend. Tonnen von Getreide, die seit beinahe zwei Jahren verrotten, werden von Karawanen von Mäusen zermahlen. Sie ziehen von einer verfaulten Getreidedüne zur nächsten, ehe sie schließlich an einem noch nie dagewesenen, aber leider verdorbenen Nahrungsüberangebot zugrunde gehen. Zum Gestank des verfaulten Weizens gesellt sich der Gestank von verwestem Fleisch.

    Irgendwo zwischen diesen Dünen gibt ein zerbombter Mähdrescher Töne von sich: „Den haben wir vor dem Krieg gekauft“, sagt Ehor. „Wir hatten überhaupt keine alten Geräte; alles war neu und erst kurz zuvor gekauft worden.“

    „Wisst ihr noch, wie wir damit gefahren sind?“, ruft Ehor seinen Freunden zu, die gerade mit ihren Mopeds angekommen sind.

    „Ja, das war toll.“ Die Kinderschar zieht weiter.

    In der Halle wird es still. Nur das Knarren und Knirschen des von der Decke herabhängenden Metalls durchbricht diese unheimliche Stille. Der ausgeweidete Wal, aus dem die Eingeweide hervorquellen, heult sein letztes Lied.

    Ich renne den Kindern hinterher.

    „Wartet auf mich, ich habe Angst, lasst mich nicht allein.“ Die Kinder sind in einer Stimmung, in der sie auf Abenteuer aus sind, an denen sie mich teilhaben lassen wollen.

    „Kommt her, ich zeige euch, wo die Leiche gefunden wurde“, ruft Ehor.

    „Hier ist die Leiche gefunden worden.“

    „Wessen Leiche?“

    „Es war ein Einheimischer. Wir heißen denn bloß diese Leute, die bei Operationen betäuben?“

    „Anästhesisten.“

    „Ja, genau, er war unterwegs, um Menschen zu helfen, als sein Auto von russischen Soldaten gestoppt wurde, woraufhin er verschwand. Nachdem die Russen vertrieben worden waren, fand man seine Leiche mit Folterspuren. Komm her, ich zeige es dir.“

    „Ich will nicht, Ehor. Lass uns von hier weggehen.“

    Es tauchen immer mehr Kinder auf.

    Eine Gruppe einheimischer Burschen in Hussariwka. Foto: Privat

    „Ich habe genug von allem hier.“ Ehor beginnt, die Kinder wegzuschicken, und ich bleibe mit dem schüchternsten aller Burschen allein zurück.

    „Wie heißt du?“

    „Maksym.“

    „Nun, Maksym, komm, zeig mir den ‚Walk of Fame'“.

    Wir gehen die Straße entlang und sehen von Granaten zerfetzte Bäume und ausgebrannte Militärfahrzeuge. Es waren unsere Fahrzeuge, und hier sind unsere Soldaten gestorben.

    „Hier fuhr am 8. März einer unserer BTR-Panzer, und unsere Männer versuchten, eine Frontlinie zu durchbrechen, aber sie scheiterten. Sie wurden getroffen.“

    Maksym führt mich zu dem Ort, an dem die ukrainische Fahne weht.

    „Hier haben wir sie gefunden, zuerst haben sie Julian getötet; er war noch sehr jung, und dann hat eine Sanitäterin versucht, ihm zu helfen und wurde ebenfalls von einem russischen Scharfschützen erschossen.“

    Maksym führt mich zum Denkmal. Wir stehen schweigend da. Ein stummer Schmerz kommt auf, über den sich die Stille legt.

    „Was willst du werden?“, frage ich Maksym.

    „Soldat. Ich werde nach der neunten Klasse an die Militärakademie gehen, um Soldat zu werden.“

    „Und warum?“

    „Ich will ihnen den Garaus machen.“

    Schmerz …

    Zorn …

    Wut …

    Hass …

    Ehor taucht von irgendwoher mit der Kinderschar auf. Manchmal denke ich, dass ich die Heldin aus dem Roman „Herr der Fliegen“ bin und dem Kriegsgott rituell geopfert werden soll.

    Die Kinder ziehen weiter, um sich ein Eis zu holen. Ehor tappt im Gebüsch umher:

    „Schau, ich habe eine Maschinengewehrpatrone gefunden, hahaha, sie ist noch nicht explodiert!“

    „Ehor, lass sie bloß nicht fallen!“, aber darauf hat er nur gewartet.

    Der Junge lächelt verschmitzt und wirft die Patrone ins Gebüsch zurück.

    „Was für eine Kindheit habt Ihr denn hier? Das muss bestimmt furchtbar sein!“, sage ich zu ihm.

    „Es ist die bestmögliche aller Kindheiten!“, lacht Ehor.

    Wir ziehen weiter; die Motorräder wirbeln Staub auf, und die Kinder verlieren sich in der dicken, graubraunen Wolke.

Karina Beigelzimer

Die letzten eineinhalb Monate haben mich auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitgenommen. Der September brachte den ersehnten Start des Schuljahres und die Möglichkeit, meine Schüler endlich wieder persönlich zu treffen. Es war ein überwältigendes Gefühl, nach 18 Monaten des Onlineunterrichts endlich wieder direkten Kontakt zu haben.

Trotz der belastenden Raketen- und Drohnenangriffe, die uns oft den Schlaf raubten und uns morgens erschöpft erwachen ließen, empfand ich zum ersten Mal seit Beginn des Krieges echtes Glück. Die Schüler waren die Quelle meiner Kraft und Motivation.

Als Journalistin hatte ich auch viel zu tun, um Reportagen für deutsche Medien vorzubereiten. Doch die Erschöpfung wuchs mit jedem Tag, und während des gesamten Krieges träumte ich von einer kurzen Atempause. Mein Traum erfüllte sich schließlich im Oktober. Doch dieser Traum hat eine Vorgeschichte.

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    Im Juni unterzeichneten die Freie Hansestadt Bremen und die Region Odessa eine gemeinsame Absichtserklärung im Bremer Rathaus. Bürgermeister Andreas Bovenschulte sagte: „Unser erklärtes gemeinsames Ziel ist es, eine dauerhafte und lebendige Partnerschaft zwischen Odessa und Bremen aufzubauen.“ Die Oberschule Lerchenstraße äußerte schnell den Wunsch, sich an dieser Städtepartnerschaft zu beteiligen. Meine Kollegin Svitlana Nahorna und ich erhielten eine E-Mail von den deutschen Lehrerinnen Gesine Zeynalov und Sylvette Penning-Hiemstra, die eine Schülerbegegnung planten. Gesagt, getan. Mit Bus, Flugzeugen und Zügen machten wir uns auf den Weg, bis wir schließlich am Bahnhof Bremen-Vegesack ankamen, wo man bereits auf uns wartete. Die Gastfamilien in Bremen öffneten nicht nur ihre Türen, sondern auch ihre Herzen und boten uns weit mehr als nur Unterkunft.

    Am ersten Tag waren die meisten Schüler schüchtern, doch das Eis brach schnell. Der Familientag am Sonntag brachte viel Freude: einige besuchten den Zoo, andere gingen ins Schwimmbad, spielten oder grillten, und zwei Familien unternahmen einen Ausflug nach Oldenburg. Svitlana Nahorna und ich wurden von unseren deutschen Gastfamilien ins Theater eingeladen. Ich saß dort und dachte plötzlich: „Hoffentlich gibt es keinen Luftalarm, und wir können das Stück bis zum Ende genießen.“ Dann atmete ich erleichtert aus. Ich war in Deutschland, und hier musste ich nicht während der Vorstellung in den Schutzkeller flüchten. Die Ruhe und Sicherheit, die wir in Bremen erlebten, waren ein unschätzbares Geschenk. Das Fehlen von Ausgangssperren und die Gewissheit, in Sicherheit zu sein, sind für uns nicht selbstverständlich. Manchmal erschraken wir, wenn laute Geräusche zu hören waren oder Feuerwerke gezündet wurden. Am dritten Tag sagte mir die 14-jährige Veronika Lukashkina: „Es macht mich ein wenig nervös, wenn hier in Bremen Flugzeuge fliegen, obwohl ich weiß, dass es normale Passagierflugzeuge sind und keine Raketen.“

    Unsere Tagebuchschreiberin reiste mit ihren Schülern nach Bremen. Foto: Privat

    Einmal im Zug saß ich neben einem Offizier der Bundeswehr, der mir erzählte, dass er ukrainische Soldaten ausbildete. Der Mann war jedoch sehr traurig, weil er gerade die Nachricht erhalten hatte, dass vier ukrainische Brigade-Mitglieder bereits gefallen waren. Beim Aussteigen wünschte er unserer Gruppe viel Kraft und den Sieg.

    Während unserer Zeit in Bremen hatten die Schüler die Möglichkeit, an zahlreichen Projekten und Ausflügen teilzunehmen. Sie lernten Trommeln und Tanzen, gestalteten Mosaiken, gingen Bowling spielen und besuchten das Rathaus sowie das Universum-Museum. Gemeinsam unternahmen wir eine Rallye durch Vegesack, erkundeten Bremerhaven und Hamburg. Selbstverständlich gehörte auch der Schulunterricht dazu. „Mir hat besonders gefallen,“ sagte der 16-jährige Mykyta Voitiuk, „dass in dieser Schule für die Oberstufe drei innovative Profile zur Auswahl stehen: Internationales Sportmanagement, Journalismus, Kommunikation und Design. Außerdem war es interessant, am Richtfest teilzunehmen. Im Herbst 2024 ist geplant, dass die Schüler in das neue Gebäude umziehen werden. Danach wird die Renovierung des alten Gebäudes beginnen, und das Ziel ist, dass Alt- und Neubau am Ende nahtlos miteinander verschmelzen.“

    Auch Sightseeing stand für die ukrainischen Gäste in der Hansestadt auf dem Programm. Foto: Privat

    Bremen, die Stadt an der Weser, verzauberte uns mit ihrer Schönheit und ihrem Charme. Die beeindruckende Architektur, die grünen Parks und die freundlichen Menschen hinterließen einen unvergesslichen Eindruck. Diese Reise wird für immer in unseren Herzen bleiben. Sie war nicht nur eine Reise von einem Ort zum anderen, sondern auch eine Reise der Hoffnung, des Zusammenhalts und der Menschlichkeit in einer Welt, die leider oft von Konflikten und Kriegen geprägt ist.

    Die deutschen Jugendlichen profitieren ebenfalls von dieser Schülerbegegnung. Azra Oloisik, die die 15-jährige Kateryna Chumakova eine Woche bei sich aufnahm, betont, dass sie viele Themen besprechen konnten und viel über die Ukraine erfahren hat. „Mit jemandem Fremden mein Zuhause zu teilen war eine völlig neue, aber auch wunderbare Erfahrung. Außerdem habe ich gelernt, mich besser mit Menschen zu verständigen, die ich zuvor nicht kannte.“ Die ukrainischen und deutschen Schüler bleiben in Kontakt und hegen die Hoffnung auf Frieden sowie darauf, dass ein Gegenbesuch in absehbarer Zeit möglich sein wird.

Karina Beigelzimer

An einem heißen Augustabend verlasse ich das Kino „Multiplex“ in Odessa. Meine Augen sind feucht von Tränen, die das soeben Erlebte widerspiegeln. Gerade habe ich die Premiere eines beeindruckenden Films miterlebt, der nicht nur die Leinwand erfüllte, sondern auch die Herzen der Zuschauer tief berührte.

Der kreative Geist hinter diesem ergreifenden Werk heißt Kyrylo Naumko, ein Filmemacher von gleichem Alter und ebensolcher Freiheitsliebe wie die Ukraine selbst. 32 werden beide in diesem Jahr. Ich kenne Kyrylo schon sehr lange. Als seine Deutschlehrerin in der Oberschule erkannte ich bereits damals seine Begabung. Die spätere Entscheidung, Germanistik an der Universität zu studieren, erfüllte mich mit großer Freude. Doch Kyrylo war nicht nur sprachlich begabt, sondern besaß auch außerordentliche Kreativität. Während seines Studiums begann er damit, kleine Dokumentarfilme zu produzieren. Durch einen Freund erfuhr er von der renommierten Filmschule ZeLIG in Südtirol.  Aber der Weg dorthin war keineswegs einfach. Visaprobleme stellten hohe Hürden dar. Wir schrieben das Jahr 2019, die Ukraine befand sich noch nicht im globalen Fokus. Dennoch gelang es ihm schließlich. Nach der Bewerbung musste er erst ein anspruchsvolles Aufnahmeverfahren erfolgreich absolvieren, bevor er die Zulassung zum Studium erhielt.

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    Seinen Diplomfilm wollte er in seiner Heimatstadt Odessa realisieren. Gemeinsam mit Kommilitoninnen verbrachte er sowohl im Sommer als auch im Winter jeweils einen Monat in Odessa, um an diesem Projekt zu arbeiten. Die Dreharbeiten für seinen Film „Dear Odesa / Одеса уві сні“ wurden fünf Tage vor dem Ausbruch des Krieges abgeschlossen, kurz bevor er wieder nach Südtirol zurückkehrte.

    Vor der Premiere teilte Kyrylo Naumko mit: „Ich habe erkannt, dass ich Filme erschaffe, um zu kommunizieren – eine Form der Verständigung, die über die Grenzen der Sprache hinausgeht. Das Kino verleiht mir die Möglichkeit, eine weitaus breitere Palette von Emotionen und Gedanken zu vermitteln, als es in Worte gefasst werden könnte. Die Form des Dokumentarfilms verleiht dem Ganzen eine zusätzliche Dimension der Universalität.“

    Filmemacher Kyrylo Naumko aus Odessa. Foto: KK

    Der Film reflektiert nicht nur seine eigenen Gedanken, sondern offenbart auch seine tiefen Gefühle für Odessa. Vor seiner Ausreise nach Italien im Jahr 2019 hatte er sich ernste Gedanken über den Niedergang seiner Heimatstadt gemacht. „Ich trug den Schmerz Odessas in mir. Es schien, als wäre die Stadt irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft gefangen, obwohl sie einst so einzigartig, geliebt und vertraut war.“

    Aus diesen Empfindungen heraus entstand der Film „Dear Odesa / Одеса уві сні“. „Ich kehrte damals zurück, um erneut mit meiner Stadt zu sprechen“, erzählt Kyrylo. Wie lebt sein vertrautes Viertel in der Malaya Arnautskaya Straße heute? Existieren die Miesmuscheln am Pier noch, und wie viel Trödel hat Sasha Korol heute auf dem Markt verkauft? Ist Kyrylo endgültig über seine Stadt hinausgewachsen oder wird die Verbindung zu Odessa für immer bestehen bleiben?

    „Damals, Anfang Februar 2022“, sagte Kyrylo Naumko, „spürte ich nichts Besonderes, doch umso eindrucksvoller wirken nun die festgehaltenen Szenen der Vor-Kriegs-Realität in Odessa – Frauen feiern ihren Geburtstag am Meer und stoßen mit Gläsern an ‚auf einen friedlichen Himmel!‘. Oder die Mutter, die auf ihrem Balkon raucht und ihrer Tochter sagt, dass sie nicht aus der Ukraine weggehen will, aber dann doch ein Jahr in Deutschland verbringen wird. Die Dreharbeiten für unseren Film wurden am 16. Februar abgeschlossen, die Hauptmontage war für eine Woche später geplant, doch anstelle der Filmmontage brach ein umfassender Krieg aus. Nach den ersten Tagen des Schocks begab ich mich dennoch zur Filmschule und sagte zu Lydia Gasparini, unserer Filmeditorin: ‚Hör mal, ich verstehe wirklich nicht, warum gerade jetzt jemand diesen Film braucht. Du solltest darauf vorbereitet sein, den Film möglicherweise alleine fertigzustellen.‘ Ich erinnere mich an Lydias Gesichtsausdruck – er war ängstlich, aber bereit, sich der Herausforderung zu stellen. In diesem Moment wurde mir klar, dass der Film existieren wird“.

    Das Plakat zum Film "Dear Odesa / Одеса уві сні". Foto: KK

    Nach der Kinovorstellung frage ich Kyrylo, warum er im Herbst 2022 in die Ukraine zurückkehrte, statt im sicheren Südtirol zu bleiben. „Wenn der Mensch, den du am meisten liebst, krank ist, musst du ihm helfen und ihm zur Seite stehen. Genauso ist es, wenn es deinem Land schlecht geht“, antwortet er, „inmitten dieses Krieges ist es mein sehnlichster Wunsch, dass diese Stadt fortbesteht. Odessa, mögest du einfach weiter existieren.“ Mit diesen Worten verabschiedet er sich und fährt nach Kiew, um an einem neuen Film zu arbeiten. Ein weiteres Kapitel in der Geschichte eines talentierten Filmemachers und seiner tiefen Verbindung zur Ukraine.

    PS: Der von Kyrylo Naumko, Hannah Hütter und Lydia Gasparini realisierte Film „Dear Odesa / Одеса уві сні“ nahm am Hauptwettbewerb des Internationalen Sole Luna Doc Filmfestivals in Palermo, Italien (3. bis 9. Juli) teil und erhielt dort die Auszeichnung für die beste Filmmontage. Die Begründung lautete wie folgt: „‚Dear Odesa‘ zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie eine durchdachte und sorgfältige Filmmontage ein tiefgreifendes Erlebnis für die Zuschauer schaffen kann, indem sie Stimmen, Momente, Texte und Visionen auswählt. In diesem Film über die Trennung und die Gewalt des Krieges offenbart die Filmmontage, wie das Kino durch Klang und Szene die Stille und Lücken in menschlichen Tragödien ausfüllen kann.“

Zhenya Laptii

Die Hitze kriecht unter meine Schutzweste und fließt wie glühend heißes Wasser meinen Rücken hinunter. Bei den Pfützen auf der kaputten Straße wimmelt es von Tausenden Heuschrecken, die durch den von Autos aufgewirbelten Staub durch die Luft geschleudert werden. Der Staub vermischt sich mit Schweiß, juckt am Körper, gelangt in den Mund und setzt sich mit einem erdigen Geschmack zwischen den Zähnen fest.

Wir fahren weiter nach Süden, näher an die Frontlinie heran. Wir hören einen durchdringenden Knall: Kommt das Geräusch näher, oder entfernt es sich? Es entfernt sich, also kommt das Projektil näher. Aber wir fahren einfach weiter, immer weiter.

Unser gepanzerter Wagen gräbt sich in den kaputten Feldweg ein und pflügt Meter für Meter den Erdboden auf. „Mädels, schaltet eure Handys aus“, ertönt ein Zuruf von den Vordersitzen. Die Männer setzen ihre Helme auf. Wir erreichen die sogenannte graue Zone, bis Wuhledar sind es noch zehn Kilometer.

Am Horizont taucht ein weißer Stollen eines Bergwerksschachtes auf. Einst gab es hier Leben. Jetzt ähnelt das Szenario einer Fata Morgana, deren Konturen langsam verschwimmen und letztendlich verschwinden. „Schaut nach links, da ist Wuhledar, ihr könnt es sehen“, sagen die Männer. Aber unser Fahrzeug biegt nach rechts ab, in Richtung Wodjane.

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    Man sagt, dass das letzte Mal im Dezember 2022 Freiwillige hier in Wodjane waren. Das erste Fahrzeug in unserem Konvoi hupt, und wir warten angespannt darauf, was geschehen wird. „Ganz ruhig, er hupt bloß die Leute herbei, denn es gibt hier kein Telefonnetz, und die Leute müssen wissen, dass die humanitäre Hilfe eingetroffen ist“, sagt unser Fahrer.

    Wir halten an einem einfachen Dorfhaus. Eine Frau läuft uns entgegen. „Gleich, gleich, ich komme ja schon, und wir werden die Hilfsgüter im Hof abladen“, ruft sie. Uns hat man erlaubt, aus dem Wagen auszusteigen. Während wir im gepanzerten, schwarzen Innenraum unseres Fahrzeuges saßen, konnte uns die Sonne mit ihren sengenden Strahlen nichts anhaben, aber jetzt stehen wir am Rande einer Landstraße, und die Hitze schnürt uns die Atemluft ab. Das Blut pocht in meinen Schläfen; irgendwo werden Raketen abgefeuert.

    Der Helm drückt auf meinen Kopf, die Schutzweste gräbt sich in meine Schultern ein. „Wie geht es unseren Leuten am ‚Ground Zero‘? Wie halten sie das bloß durch?“, murmelt meine innere Stimme immer und immer wieder.

    Langsam kommen Menschen herbei. Es sind 33, um genau zu sein. Alle, die hiergeblieben sind – alle, die übriggeblieben sind. Wir bringen Medikamente in den Hof eines Hauses; große Rosensträucher breiten sich auf dem Boden aus und lassen erkennen, dass sie schon lange nicht mehr geschnitten worden sind. Der Arzt richtet seinen Arbeitsplatz direkt auf der Terrasse des Hauses ein. Hier wird er seine Patienten empfangen. Draußen vor dem Tor hat sich bereits eine kleinere Menschenmenge versammelt, die zum Arzt will. „Wer ist der Erste?“, ertönt die Stimme des Arztes. „Ich!“, ruft eine Frau. Was sie weiter sagt, geht im neuerlichen Raketendonner unter.

    Bilder der Zerstörung in Frontnähe. Foto: Zhenya Laptii

    Ich gehe im Hof herum. Ein Ziehbrunnen, ein weiterer Rosenstrauch, ein von Trümmern leicht ramponierter Gartenzwerg, eine zerstörte Gartenlaube … Wenn man sich vorstellt, wie es hier früher einmal ausgesehen haben dürfte, wirkt der Hof erstaunlich gemütlich, fast wie einem Märchen entsprungen. So irgendwie will das gar nicht zum deprimierenden Bild des Donbas passen, das sich in meinem Innersten breitgemacht hat.

    Ein neuer Patient kommt zum Arzt. Er humpelt. „Ich habe Kopfschmerzen, und meine Mutter ist gestorben; ich habe sie letztes Jahr selbst beerdigt. Können Sie mir einen Totenschein ausstellen?“, sagt der Mann. Mein Blut gefriert mir in den Adern. „Wo haben Sie sie begraben? Ist sie eines natürlichen Todes gestorben?“, fragt der Arzt. „Ja, sie hat den Krieg nicht mehr ausgehalten. Ich habe sie in der Nähe meines Hauses begraben“, antwortet der Mann.

    Der Arzt seufzt: „Eine Sterbeurkunde kann ich nicht ausstellen. Dafür bedarf es einer Exhumierung und bestimmter Dokumente. Wie soll ich das alles hier für dich bewerkstelligen?“, sagt der Arzt. Er zeigt auf einen stämmigen Mann in Schutzweste. „Geh zu Andrij, er ist von der Polizei, er kann dir helfen.“ Dann gibt er seinem Patienten noch ein Päckchen mit Tabletten gegen Kopfschmerzen mit.

    Schon monatelang sollen keine Hilfslieferungen mehr nach Wodjane gekommen sein. Foto: Zhenya Laptii

    Ich gehe auf den Hof hinaus, wo die humanitären Güter verteilt werden. Es sind mehrheitlich ältere Menschen, die im Dorf zurückgeblieben sind. Aber mitten unter den faltig-zerfurchten Gesichtern bemerke ich auch ein sehr junges. Es gehört einem Mann von etwa 20 Jahren. Er ist mit seiner Mutter aus Wuhledar gekommen, als es unerträglich wurde, stets den Bombardements ausgesetzt zu sein.

    Andrij spricht ihn an, um ihn zu überreden, mit uns zu kommen, denn für den jungen Mann namens Sascha gibt es hier nichts zu tun. Sascha hat sein ganzes Leben noch vor sich, hier gibt es keinen Strom, kein Wasser, sondern nur andauernden Beschuss.

    Die Menschen kommen mit Schubkarren, Fahrrädern und sonstigen Transportgeräten, um die Hilfsgüter zu verladen. Dann machen sie sich, beladen mit Lebensmitteln und Wasser, auf den Weg zurück zu ihren Häusern.

    Auch für uns ist es Zeit, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Wir steigen in den Wagen, dessen schwarze Panzerung die Sonne von uns fernhält. Es wird uns leichter zumute. Plötzlich kommt ein großer, zotteliger Hund, den alle hier Roy rufen, auf unser Fahrzeug zu, steigt ohne zu zögern ein und verdrängt mich von meinem Sitz. Irgendwie scheint Roy zu spüren und zu wissen, dass wir ihn von den ständigen Bombardements wegbringen können.

    Rustem, einer der Männer, die mit uns unterwegs sind, nähert sich unserem Wagen, sieht Roy und fordert ihn auf, auszusteigen, aber der will nicht. Als Andrij Roy erblickt, scheint es, als hätte der zottelige Hund, der nicht und nicht aus dem Wagen will, tatsächlich eine Chance mitzukommen.  „Wenn du so stur bist, dann nehmen wir dich eben mit“, sagt Andrij und winkt dem Hund zu. Doch Rustem bleibt hart. „Nein, wir werden Roy nicht mitnehmen“, sagt er. „Der Hund gehört jemand anderen, er gehört zu einem Haus.“

    Als Rustem dem Hund mit lauter Stimme befiehlt, auszusteigen, gibt sich dieser schließlich geschlagen.  Sein flauschiger Schwanz gleitet langsam und niedergeschlagen aus dem Wagen. Hinter Roy schließt sich die schwere gepanzerte Tür.

    Wir fahren nun nach Hause, nach Kurachowe. Morgen werden wir ein neues Dorf an der Frontlinie besuchen, wo andere Menschen auf unsere Hilfe warten werden.

Olia Fedorova

Eine weitere große Tragödie für die Ukrainer im Zuge dieses alles umfassenden Kriegs ist der unterbundene Zugang zu Hunderten Quadratkilometern Land für Gärten, Obstgärten und Felder. Die Ukraine hat seit jeher einen außergewöhnlich fruchtbaren Boden, „Chornozem“, schwarze Erde, von der gesagt wird, dass man einen Stock hineinstecken kann und dieser Stock wird dann bald blühen. Es wird berichtet, dass die Nazis während der Besatzung Waggonladungen mit ukrainischem Chornozem nach Deutschland brachten. Eine weitere bekannte Tatsache ist, dass die Ukraine jahrzehntelang die halbe Welt mit ihren landwirtschaftlichen Produkten, allen voran Getreide, versorgte.

Demnach ist es kein Wunder, dass es in der Ukraine immer viele Menschen gab, die mit dem Boden aufgewachsen sind und alles darüber wussten und ihr Wissen und ihre Fertigkeiten in der Landwirtschaft über Generationen weitergaben. Sie haben eine ganz spezifische Kultur weitergegeben, die auf Liebe für und Respekt gegenüber der Natur beruht, aber vor allem auf dem Gefühl der Zugehörigkeit und dem festen Willen, das kleine Stück Land, mit dem man verwurzelt ist, sowohl zu schützen als auch zu entwickeln.

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    Meine Großeltern Vira und Serhiy stammten aus typischen ostukrainischen Familien. Sie kamen in kleinen Dörfern zur Welt, wo jeder entweder mit Pflanzen oder mit Tieren arbeitete, und gehörten zur ersten Generation, die in die Großstadt zog. Aber sie waren immer bestrebt, die Verbindung zum Erdboden nicht zu verlieren, und erst vor 13 Jahren ist es ihnen gelungen, ein eigenes Stück Land in einem Dorf zu erwerben, eine Autostunde von Charkiw entfernt. Sie haben dort ein kleines Haus mit einem großes Grund zur Gartenarbeit, unmittelbar vor ihren Toren begann der Acker. Dort konnten sie ihrer Leidenschaft für das Pflanzen, Aufziehen und Ernten nachgehen. Ehrlich gesagt hatte meine Oma Vira schon immer einen grünen Daumen, selbst scheinbar abgestorbene Blumen konnten unter ihren Händen wieder aufblühen. Und Opa Serhiy war mit seinem Ingenieursgeist für die gesamte Infrastruktur zuständig, sodass seine Frau ihre „Magie“ effektiv anwenden konnte.

    Unnötig zu erwähnen, dass sie in diesen Jahren viel Energie in ihr Dorfhaus, ihre Datscha, gesteckt haben. Es war viel Arbeit, aber sie freuten sich immer außerordentlich, wenn der Frühling kam und sie wieder hinfahren konnten. Jedes Jahr im Sommer brachten sie uns kiloweise frische Tomaten, Paprika, Gurken und Beeren, die schmackhaftesten, die man sich vorstellen kann. Sie konservierten das Gemüse, froren die Beeren ein und kochten Marmelade, damit die Familie den ganzen Winter über mit Vitaminen versorgt wäre. Manchmal war die Ernte so reich, dass sie Gemüse und Obst an ihre Freunde verschenkten, und einige Male verkaufte mein Großvater sogar auf dem örtlichen Markt. Ich habe nie einen glücklicheren Menschen gesehen als meine Großmutter, die allen ihre Blumen und Bäume zeigte und über neue Rosensorten sprach, die sie im nächsten Jahr zu pflanzen beabsichtigte.

    Getreideernte in der Region Kiew. Foto: AFP/Sergei Supinsky

    2022 überfiel Russland die Ukraine, und das Gebiet, in dem meine Großeltern ihr Haus und den Garten hatten, wurde besetzt. Glücklicherweise ist die Gegend, in der sich alle Datschen befanden, etwas entfernt vom Hauptort, es gibt dort keine gute Straße oder sonstige Infrastruktur, die die Aufmerksamkeit der Besatzer auf sich ziehen würde. Es sind also nie russische Soldaten dorthin gekommen, aber das Gebiet war völlig von der Zivilisation abgeschnitten, es gab keinen Strom und somit auch keine Möglichkeit, Trinkwasser aus den Brunnen zu pumpen. Und natürlich gab es weder einen Zugang für Menschen von außerhalb noch einen Ausweg für diejenigen, die in ihren Datschen überwintert hatten. Es war Frühling, die Zeit, in der meine Großeltern normalerweise in ihre Datscha gefahren wären und mit der Gartenarbeit begonnen hätten, aber in diesem Frühjahr war das unmöglich, was sie sehr bedrückte.

    Obwohl das Gebiet Anfang Mai 2022 befreit wurde, riet man den Menschen dringend davon ab, hinzufahren, da das Land vermint sein könnte und die Kämpfe in der Nähe noch andauerten. Erst im nächsten Frühjahr, im April 2023, gelang es meinen Großeltern endlich, ihr Dorfhaus und den Garten zu besuchen. Was sie dort sahen, war erschütternd. Das Unkraut bedeckte die ehemals fein säuberlichen Gemüsebeete, es war fast brusthoch. Die Früchte wie Kirschen, Zwetschgen und Äpfel, die im letzten Sommer von den Bäumen auf den Boden gefallen und nie geerntet worden waren, wuchsen überall im Garten zu neuen Bäumchen heran, und zwar an Stellen, wo sie ganz offensichtlich nicht sein sollten.

    Das Traurigste war, dass mein Großvater vor der Invasion, als die Datscha-Saison zu Ende ging, wie immer die Bäume und Sträucher mit Textilien umwickelt hatte, um sie vor der Kälte und den Wildkaninchen zu schützen. Es gab niemanden, der sie im Frühjahr auspacken konnte, und so blieben die Pflanzen mehr als ein Jahr lang eingehüllt. Viele gingen leider ein. Andere entwickelten neue Triebe, manche davon konnten die Hülle durchbrechen, sonst mussten sich auf engstem Raum entwickeln, sodass sie sich verformten und nun wie unheimliche krumme Äste in einem dunklen Gruselwald aussahen. Das Feld vor dem Garten war voller ausgetrockneter Sonnenblumen, sie befanden sich dort seit der Saison 2021, weil während der Besetzung niemand das Feld erreichen konnte, um sie zu entfernen und den Boden aufzubereiten.

    Landminen in der Region Saporischschja. Foto: Imago/Dmytro Smolienko

    Bevor die Großeltern kommen konnten wurde das Gebiet auf Minen hin untersucht, aber meistens nur die Wohnbereiche, die Felder nicht. Dass das Gebiet geräumt worden war bedeutete also nicht, dass dort keine Minen auftauchen würden. Kürzlich wurde außerdem von Fällen in der Region Charkiw berichtet, in denen Krähen und Elstern, angezogen vom metallischen Glanz, kleine „Schmetterlingsminen“ vom Boden aufpickten, diese kilometerweit verschleppten und in anderen Gebieten abwarfen, selbst an Orten, die als völlig sicher galten.

    Meine Großeltern arbeiten nun schon seit mehreren Monaten wieder in ihrem Garten und versuchen wiederherzustellen, was Russland nach so vielen Jahren harter Arbeit zerstört hatte. Dennoch meinen sie, dass es besser ist, alles fast von neuem aufzubauen, als nie wieder an diesen Ort kommen zu können. Trotz der unsicheren Zeiten und ihres Alters, das ihre Möglichkeiten natürlich einschränkt, haben meine Oma Vira und mein Opa Serhiy Hoffnung und den Willen, ihren Garten wieder zum Blühen zu bringen. Ich freute mich, als sie mir Fotos ihrer ersten Ernte nach der Invasion schickten: ein Stapel Gurken und drei riesige rote Erdbeeren.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Die vergangene Woche war eine Zeit des Schreckens und der Verzweiflung für Odessa. Meine Nächte waren von Angst und schlaflosen Stunden geprägt. Die grausamen Angriffe waren die schlimmsten, die die Stadt seit Beginn des Krieges erlebt hatte. Das laute Dröhnen der herannahenden Raketen hallte durch die Straßen und erfüllte die Luft mit düsteren Vorahnungen.

Russland setzte gnadenlos Drohnen und verschiedene Arten von Marschflugkörpern ein, die einen unvorstellbaren Schrecken in die Herzen der Menschen jagten. Besonders gefürchtet waren die Raketen „Oniks“ und „X-22“, die wie düstere Schatten über der Stadt schwebten und als nahezu unangreifbar galten.

Die Angst vor dem nächsten verheerenden Angriff ließ die Menschen in ständiger Anspannung leben. Besorgniserregend war zudem die synchronisierte Abschussmethode in Kombination mit Raketen des Typs „Kalibr“. Dies legt nahe, dass Russland eine neue taktische Strategie anwendet oder versucht, den Luftverteidigungssystemen der Region maximal entgegenzuwirken.

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    Die Verklärungskathedrale, einst ein stolzes Zeichen des Glaubens und der Hoffnung, ist nun schwer beschädigt. Ebenso erging es einigen Museen, Schulen, Kindergärten, Verwaltungsgebäuden, Konsulaten und Wohnhäusern, die allesamt durch die zerstörerischen Kräfte der Raketen gezeichnet sind. Die Liste der Beschädigungen ist lang und erzählt von einem Ausmaß der Zerstörung, das kaum in Worte zu fassen ist. Besonders schwer traf es auch die Häfen von Odessa und Tschernomorsk, die einst wichtige Knotenpunkte für den Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer waren. Etwa 60.000 Tonnen Getreide wurden vernichtet, und die Hafeninfrastruktur wurde beschädigt. Der Hafen von Odessa ist nicht nur für die Ukraine von großer Bedeutung, sondern auch für viele Staaten der Welt, die auf die Lieferung von Getreide angewiesen sind. Wenn dies nicht mehr möglich ist, drohen in ärmeren Ländern Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöte. Mit den schrecklichen Angriffen auf die Region Odessa versucht die russische Regierung, die Wiederherstellung des „Getreidekorridors“ zu verhindern.

    Die schwer beschädigte Verklärungskathedrale von Odessa. Foto: Privat

    Das Stadtzentrum von Odessa, einst ein pulsierender Ort kultureller Vielfalt und Schönheit, ist heute von Trauer und Verwüstung gezeichnet. Wenn ich durch die Straßen schlendere, überkommt mich ein Gefühl tiefer Melancholie. Die Narben des Krieges sind allgegenwärtig. Während ich durch die Trümmer eines Gebäudes wandere, treffe ich auf eine Frau, die neben den Überresten ihres Hauses steht. Tränen fließen über ihre Wangen. Sie hat alles verloren, nur ihren Hund konnte sie inmitten des Chaos retten. Ihr Schicksal ist nur eines von vielen, das ich in dieser dunklen Zeit sehe. Die „Russische Welt“ hat sie von ihrem Hab und Gut „befreit“, und zurück bleibt nur Leid und Verzweiflung.

    In dieser schwierigen Zeit rücken die Menschen von Odessa enger zusammen. Sie stehen einander bei, helfen beim Aufräumen der Trümmer und unterstützen diejenigen, die alles verloren haben.

    Jede Person, die vom Krieg betroffen ist, hat ihre eigene einzigartige Erfahrung und jeder reagiert anders darauf. Gestern habe ich auf Facebook gesehen, wie die ukrainische Journalistin Yulia Gorodetska ein Foto mit rotem Lippenstift gepostet und geschrieben hat, dass Russland niemals Odessa erobern wird. Danach sind dutzende Fotos von jungen Frauen mit rotem Lippenstift im Netz aufgetaucht. Der Lippenstift dient dabei als Symbol – die Waffe der Frauen. Es ist ein Protest gegen den Krieg und den Terror Russlands, ein Zeichen dafür, dass das Gute und die Schönheit das Böse und den Terror besiegen werden. Die Zivilbevölkerung bleibt stark, doch die Wunden, die dieser Krieg hinterlässt, werden noch lange schmerzen.

Karina Beigelzimer

Der Duft des Sommers liegt in der Luft. Früher war der Juli in Odessa von einer gewissen Leichtigkeit geprägt. Das hatte Auswirkungen auf den Tourismus. Er machte die Stadt bunter und bescherte zugleich zahlreichen OdessitInnen Arbeit und Einkommen. Über vier Millionen Touristen besuchten 2021 unsere wunderschöne Stadt am Schwarzen Meer.

Nun bleiben die meisten Gäste weg. Fast alle Hotels kämpfen mit niedrigen Belegungszahlen. Einige werben aber dennoch um Gäste, auch über die sozialen Medien. Sie versuchen Influencer anzusprechen. Da der Strand nicht zugänglich ist, werben sie z.B. mit ihrem Pool. Auch das vor kurzem eröffnete internationale Kulturzentrum UNION in Odessa lockt Gäste mit verschiedenen interessanten Ausstellungen, Lesungen und Konzerten.

Ganz brach liegt der Tourismus in der Ukraine aber doch nicht. Der Inlandstourismus erholt sich allmählich. Es gibt sogar Ukrainer, die sich eine kleine Auszeit vom Krieg nehmen und innerhalb des Landes in touristische Gebiete fahren, die als sicherer gelten als z. B. die Ostukraine. Für sie, die in Kriegsgebieten unter Dauerstress leben, kann es durchaus eine Erholung und eine körperliche und psychische Stärkung sein, ein paar Tage in Odessa oder in den Karpaten abzuschalten.

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    Aber hin und wieder sehe ich in meiner Stadt sogar ausländische Touristen, und ich wundere mich immer wieder, aus welchem Grund sie das Risiko eingehen, in ein Land zu fahren, dass sich im Kriegszustand befindet.

    So wie z.B. Künstler Harald Allf aus Leipzig, den ich vor ein paar Wochen in Odessa traf. Er ist Mitglied im Leipziger Verein „Ukraine Kontakt“ und und plant eine Ausstellung mit der Kiewer Künstlerin Olseya Dzhuraeva in der Leipziger Galerie. Das waren für ihn ausreichend Gründe, eine Reise in die Ukraine anzutreten.

    Wir spazierten durch die Stadt, die in der Nacht zuvor einen Raketenangriff erlebt hatte. Harald war aber ruhig. „Wenn meine sicherheitsbewussten Mitbürger daheim mich vorwurfsvoll fragen, wie man sich dem Risiko einer solchen Reise aussetzen kann“, erzählte mir der Künstler aus Leipzig, „kann ich nur antworten, wenn meine ukrainischen Freunde und das gesamte ukrainische Volk dieses seit nunmehr über 16 Monate erleben müssen, dann werde ich das wohl auch für ein paar Tage können.“

    Weil der Flugverkehr eingestellt ist, musste Harald mit dem Bus fahren, mit kurzen Aufenthalten in Breslau und Krakau. Die Formalitäten an der polnisch-ukrainischen Grenze waren langwierig. Zweimal wurden die Pässe sämtlicher Buspassagiere eingesammelt, angeschaut und wieder ausgeteilt. Die Abfertigung dauerte Stunden. Im Morgengrauen dann rollte der Bus über die Grenze. Die Folgen des Krieges waren schon auf der Fahrt nach Kiew entlang der Straße deutlich sichtbar: einzelne ausgebrannte Häuser, eine völlig zerstörte Lagerhalle, Checkpoints und Panzersperren …

    Stimmungsbild aus Odessa: Ein Mann und ein Bub mit Badehose, im Hintergrund ein Getreide-Frachter. Foto: Imago/Yulii Zozulia

    Nach der Ankunft auf dem Zentralen Autobusbahnhof in Kiew ließ sich Harald von der Atmosphäre der Großstadt einfangen: Architektur, Verkehr, der Reiz des Unbekannten. Immer wieder sind die ersten Momente in einer fremden Stadt von belebender Intensität, selbst nach einer Nacht mit wenig Schlaf im Reisebus.

    Am nächsten Tag stand er zusammen mit seinem ukrainischen Freund vor einem Flachbau im Nordwesten Kiews. Auf der anderen Seite der sechsspurigen Straße befindet sich jener Fernsehturm, der am 1. März 2022 von einem russischen Marschflugkörper getroffen und von einem weiteren knapp verfehlt wurde. Der zweite tötete fünf Menschen und setzte das Gebäude, in dem sich ein Sportzentrum befand, in Brand. Von den früheren sportlichen Aktivitäten zeugen noch die verkohlten Skelette einiger Fitnessgeräte, die als Zeugen der Zerstörung im Raum belassen wurden.

    Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der für Harald erste Luftalarm in Kiew in dem Augenblick ertönte, als er die spektakuläre Aussicht von der Glasbrücke im Volodymyrskiy-Park erlebte. Diesen Moment beschreibt Harald Allf so: „Das war für mich so etwas wie ein Schlüsselmoment der Reise: da war der Sommerabend, da war der Panoramablick, nicht nur über die Stadt, sondern über den Dnipro weit ins Land. Da waren die Musik und die Menschen: ruhig, von der Bedrohung unbeeindruckt. Das Leben, die Schönheit und die Kunst waren in diesem Moment zwischen Himmel und Erde vollkommen furchtlos.“

    Nach Odessa ging es im Liegewagen mit dem Nachtzug. Am sommerlichen Sonntagmorgen schien die Stadt noch im Tiefschlaf zu liegen. „In dieser Ruhe“, so Alff, „kommt die bescheidene Eleganz der baumbestandenen Straßen mit ihren relativ niedrigen Häusern ganz unmittelbar zur Geltung. Bevor man zum -momentan ab gesperrten- Hafengelände kommt, stößt man auf die Oper in ihrer ganzen neobarocken Pracht. Auch wenn mir der Vergleich fehlt, aber es ist zu spüren, dass der Energiefluss dieser Stadt blockiert ist. Das Schwarze Meer ist zwar noch da, jedoch stehen die Kräne des Frachthafens still. Und das sonst so klare Wasser ist bräunlich und vom Kachowka-Desaster wahrscheinlich kontaminiert, sodass die Strände menschenleer sind. Alles auf Standby.“

    Die Stimmung in dem Bus, mit dem der Künstler aus Leipzig ein paar Tage später von Lwiw (Lemberg) nach Krakau zurückfuhr, schilderte er als gedrückt. Alle wirkten sehr erschöpft. Man spürte, so schrieb er mir, dass diese Menschen sich nicht auf eine freiwillige Reise begeben hatten.
    Dennoch ist Alff sich sicher, dass er wieder in die Ukraine kommt und dass unser Land nach dem Krieg wieder Millionen von Touristen beherbergen wird.

Karina Beigelzimer

Es war ungefähr 2.30 Uhr, als es wieder Fliegeralarm gab – nur zwei, drei Minuten später gab es solche Explosionen, dass das Haus wackelte und zitterte. Und ich konnte zuerst gar nicht verstehen, was passiert ist, weil das alles sehr nah war. Es waren russische Marschflugkörper, Ziel der Attacke war ein Business-Center im Zentrum der Stadt, keine 1,5 Kilometer von unserem Haus entfernt. Dort gibt es viele Geschäfte und Büros, dort ist aber auch ein Museum für Kinder untergebracht. Was passiert ist, erfahren wir über die offiziellen Telegram-Kanäle.

Meine Mutter erholt sich nach einer sehr schweren Operation im Mai, ich kümmere mich um sie und versuchte sie in dieser Nacht zu trösten. Schon wenige Tage zuvor gab es nach einem russischen Angriff Explosionen, Tote und Verletzte. All diese schlaflosen Nächte. Ich verstehe, dass ich aufstehen muss, aber ich kann es nicht. Die letzten Monate haben mich sehr erschöpft. Ich habe versucht, das zu verstecken, aber meine Augenringe verraten das. Ich schalte auf Energiemodus. Die letzten Wochen sind voller Last, und die Nächte bringen mir keine Erholung.

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    Russland setzt auf Terror und auf Zermürbungstaktik: Raketenangriffe in der Nacht – das erzeugt bei vielen von uns psychische Belastungen: Angst und Depression, Schmerzen und Schlafstörungen. Es ist, als wären wir im falschen Film oder würden gerade aus einem Alptraum erwachen. Nur leider ist es kein Alptraum, sondern schreckliche Realität. Ich versuche irgendwo noch Kraft zu tanken, aber das gelingt mir nicht immer. Manchmal sitze ich verzweifelt und weiß nicht, wie ich das alles aushalten kann.

    Ich habe das Gefühl, ich halte mich im Wartezimmer des Lebens auf: Jeder Tag bringt eine weitere Dosis Unsicherheit mit sich, und wir sind gezwungen, in ständiger Alarmbereitschaft zu leben. Aber dieses Wartezimmer des Lebens ist auch ein Ort der Prüfung. Während wir hier warten, werden wir mit den tiefsten Abgründen unserer Existenz konfrontiert. Wir müssen unsere Ängste überwinden, unsere Menschlichkeit bewahren und uns den widrigsten Umständen stellen. Es ist eine Zeit, in der wir unsere inneren Ressourcen mobilisieren und uns mit dem Unvorstellbaren auseinandersetzen müssen.

    Ein Radfahrer vor einem beim Raketenangriff am 14. Juni 2023 beschädigten Business-Gebäude in Odessa. Foto: APA/AFP/Oleksandr Gimanov

    Das Bemerkenswerte am Leben in Odessa während des Kriegs ist Optimismus. Aufgeben? Keine Option! Und so nehmen wir selbst den Horror des Krieges mit Humor: Jede Woche, jeder Tag, den wir weiterleben, ist wie ein Geburtstag. Dank der Russen hat darum jeder Mensch in der Ukraine jetzt 365 Mal im Jahr Geburtstag.

    Eigentlich kann man sich an den Krieg nicht gewöhnen, es geschieht aber trotzdem. Denn wenn man es nicht schafft, sich anzupassen, überlebt man das alles nicht. Ich meine auch psychisch. Die Einwohner der Stadt versuchen ein Maß an Normalität und sogar einige alltägliche Freuden wiederzufinden. Trotz aller Einschränkungen sollen die Leute doch wenigstens einmal abschalten können, Musik hören, Ballett genießen. Konzerte und Theater kann man wieder besuchen. Auch das Opernhaus hält sein Kulturangebot aufrecht. Wenn Sirenen ertönen, wird die Vorstellung abgebrochen, die Zuschauer haben dann die Wahl, das Gebäude zu verlassen oder in den Kellern unter dem Theater Zuflucht zu suchen.

    Auch Cafés im Stadtzentrum und am Meer sind wieder voll. Viele, die im letzten Jahr Odessa verlassen haben, sind zurückgekommen, außerdem gibt es in der Stadt 140.000 Flüchtlinge (inoffiziell etwa 300.000). Einige fragen mich: „Was, es ist Krieg und die Ukrainer gehen spazieren, sitzen und trinken Kaffee?“ Meine Reaktion darauf ist: Was soll das? Ihr müsstet doch froh sein, dass sich die Menschen hier noch ablenken können. Es ist ja nicht so, dass wir uns der Gefahr nicht bewusst wären, jederzeit Opfer eines Raketenangriffs werden zu können. Wir wollen aber, wenn auch nur ein winzig kleines Stück, Normalität zurück!

    Ich bin aber gegen laute Partys, die manchmal in den Strandclubs stattfinden, weil das überhaupt nicht zur Zeit passt. Jeden Tag sterben Soldaten und Zivilisten in unserem Land. Manchmal habe ich Angst, Facebook zu lesen – dort finde ich so viele Traueranzeigen.

    Tod und Leben inmitten der Dunkelheit des Krieges. Jeder Moment des Glücks ist kostbar und wiegt jetzt wie ein Kilo Gold. Und wir alle sind entschlossen, unser Bestes zu geben, um die Last des Krieges zu erleichtern und den Feind zu besiegen.

Olia Fedorova

Mehr als ein Jahr ist der Krieg in vollem Gange. Mehr als ein Jahr, in dem wir das wahre Gesicht der russischen Armee erkannt haben, als Butscha, Irpin, Borodianka und andere Städte entokkupiert wurden. Die Ukraine hat den dunkelsten Herbst und Winter überstanden. Der Frühling ist eingekehrt, Licht und Wärme sind auch in die ukrainischen Städte zurückgekommen. Es sind so viele Dinge passiert, dass es für ein ganzes Menschenleben reicht. Diejenigen von uns, die das Glück hatten, es bis hierher zu schaffen, sind nicht mehr dieselben wie vorher. Aber wer sind wir jetzt?

Wir sind diejenigen, die es verlernt haben, Pläne für mehr als einen Monat im Voraus zu machen. So viele Pläne wurden in einem einzigen Moment am 24. Februar zerstört, das Leben so vieler Menschen wurde komplett umgekrempelt. Wir fanden uns an Orten wieder, von denen wir nie dachten, dass wir sie aufsuchen würden, und taten Dinge, von denen wir nie vermuteten, dass wir sie tun würden.

Der bloße Versuch, die Zukunft vorherzusagen oder etwas im Voraus zu planen, funktioniert nicht. Sie können kein Haus kaufen, renovieren oder einrichten, weil sie nicht sicher sein können, ob es nicht schon morgen von einer russischen Rakete zerstört wird, selbst wenn sie im westlichen Teil der Ukraine leben. Sie können sich kaum mit einem Menschen anfreunden, weil er morgen vielleicht an einen anderen Ort geht oder getötet wird – oder das Gleiche kann ihnen selbst passieren. Sie können auch keine langfristigen Ersparnisse anlegen oder große Investitionen tätigen, weil sie das Geld vielleicht schon morgen für einen Stromgenerator, ein Fahrzeug für ihren Freund an der Front oder für eine Notfallevakuierung brauchen. Dies führt einzig und allein zu völliger Verunsicherung und Frustration.

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    Zugleich kann es aber auch genau das Gegenteil bedingen – wenn Planung sinnlos geworden ist, wenn jeder nächste Tag der letzte sein kann, warum sollten sie sich dann in diesem Leben überhaupt einschränken? Es gibt in der Ukraine Menschen, die buchstäblich gerade ihre besten Momente erleben: Sie heiraten, werden Eltern, adoptieren Haustiere, renovieren ihre Wohnungen und kaufen Dinge, von denen sie schon immer geträumt haben, auch wenn sie ihr letztes Geld dafür ausgeben müssen. Sie führen Aktionen durch und setzen Ideen um, die sie bisher aufgeschoben haben. Heutzutage ist in Charkiw jedes Konzert, jede Ausstellung oder jede andere öffentliche Veranstaltung immer „ausverkauft“, die Einkaufszentren sind überfüllt, und in den Restaurants gibt es selten leere Tische. Das Leben in der Ukraine und insbesondere in Charkiw erscheint so ambivalent – erstarrt in Frustration und Ungewissheit und gleichzeitig voller Energie, auf Hochtouren lebend, um jeden möglichen Moment zu erhaschen, um alles aus diesem extrem fragilen und kurzen Leben herauszuholen.

    Wir sind diejenigen, die nichts mehr für selbstverständlich halten und sich über die kleinsten Dinge freuen. Ich kenne niemanden, der glücklicher war als die Bürger von Charkiw, als nach einem Jahr völliger Verdunkelung die ersten Lichter in den Straßen der Stadt wieder eingeschaltet wurden.

    Diese schlecht beleuchteten Straßen, über die wir uns vor dem Krieg bei der Stadtverwaltung beschwert hatten, schienen hundertmal heller zu sein, als der Times Square. Und das Vergnügen, nach Tagen ohne Wasserversorgung in der Wohnung ein langes, heißes Bad zu nehmen, ist hundertmal besser, als es im luxuriösesten Thermalbad je sein kann. Meine Mutter weinte kürzlich fast vor Glück, als sie zum ersten Mal in Charkiw wieder in einem Stau steckte, was sie vor dem Krieg natürlich sehr geärgert hätte, denn es bedeutete, dass die Stadt wieder zum Leben erwacht.

    Zerstörtes Wegzeichen bei Charkiw - Buchstaben aus Metall, die den Namen der Stadt bilden. Foto: Privat

    Wir sind diejenigen, die für immer traumatisiert sind. In all unseren Gesprächen kommen wir irgendwann auf das Thema Krieg, Evakuierung, Besatzung, Bombardierungen und Gräueltaten zu sprechen. Wenn ich Menschen im Ausland von irgendetwas erzähle, von irgendeinem Teil meines Lebens oder irgendeiner anderen Person, dann kommen immer die Worten vor „und nach der Invasion hat er/sie/es …“. Wenn ich über mein eigenes Vorkriegsleben spreche, ist es so, als würde ich über das Leben einer anderen Person sprechen, etwas aus einer anderen Realität. Selbst wenn wir gar nicht reden – unser Schweigen ist auch ein Schweigen über den Krieg. Es ist ganz angenehm, wenn man mit anderen Menschen aus der Ukraine zusammen ist, aber es ist unangenehm mit Ausländern. In diesen Momenten können wir unser Trauma deutlich sehen, das wie eine Mauer zwischen uns Ukrainern und allen anderen steht. Es ist möglich, sie zu durchbrechen, wir versuchen es aufrichtig, aber es ist nicht einfach und oft sogar schmerzhaft.

    Und schließlich sind wir diejenigen, die akzeptiert haben, dass das Leben nie wieder so sein wird wie früher. Im Winter, als ich meiner Mutter half, von Graz zurück nach Charkiw zu ziehen, fuhren wir zur nordöstlichen Grenze der Stadt, zum dem Punkt, an dem Charkiw am 24. Februar 2022 auf die ersten Invasoren traf, dem Ort der schwersten Kämpfe. Vor dem Krieg kamen wir am Weg zum Dorfhaus meiner Großeltern immer an dieser Stelle vorbei, und wir erinnerten uns an das Wegzeichen am Eingang zur Stadt – riesige Buchstaben aus Metall, die das Wort „Charkiw“ bildeten.

    Es war durch feindliches Feuer schwer beschädigt, das Metall war verschmort, einige Buchstaben waren komplett verschwunden. In der Nähe gab es einen Kontrollposten, an dem mehrere Soldaten Dienst taten. Ich fragte sie, ob ich ein Foto von dem Zeichen machen könne, und einer der Soldaten stand auf, um mich dorthin zu begleiten, denn es war immer noch ziemlich gefährlich, sich allein in diesem Gebiet zu bewegen. Als wir uns dem Objekt näherten und ich das Ausmaß der Zerstörung sah, begann ich am ganzen Körper zu zittern und meine Augen füllten sich mit Tränen. Der Soldat tröstete mich mit einer leichten Umarmung, er bot mir an, ein Foto von mir vor dem deformierten Schriftzug zu machen, „zum Andenken“, sagte er. Ich sagte ihm, dass ich diese Art von Erinnerungen lieber nicht haben möchte. Der Soldat seufzte.

    „Da kann man nichts machen. Das ist es, was wir jetzt sind. Das ist unsere Erinnerung“, sagte er mit einem sanften Lächeln.

    Übersetzung: Anton Lederer

Karina Beigelzimer

Auf meiner Facebook-Seite wurde mir vor kurzem eine Fotoerinnerung aus dem Jahr 2015 angezeigt. An dem Tag habe ich Tetiana Gaidamaka in Odessa kennengelernt. Ich war von dieser Frau sofort fasziniert und alle diese Jahre haben nur bestätigt, dass ich Recht hatte. Sie ist eine bekannte Augenärztin. Vor dem Krieg arbeitete sie als renommierte Spezialistin in der Abteilung für Hornhautpathologie in der Filatov-Klinik in Odessa. Im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn hat Tetiana tausenden Patienten aus der ganzen Welt geholfen.

Tetiana arbeitet fast 40 Jahre als Ärztin. Damit könnte sie bereits seit langem im wohlverdienten Ruhestand sein. Als ich im März 2022 erfuhr, dass Tetiana und ihr Mann Hans-Dirk (ein deutscher Staatsbürger, der die letzten zehn Jahre in Odessa lebte) nach Österreich flohen, dachte ich, sie würde sich endlich von der Arbeit erholen. Aber ich irrte mich sehr. Die „Erholung“ dauerte nur wenige Wochen, denn den Arztkittel niederzulegen, kommt für Tetiana nicht in Frage. Für die Augenärztin steckt die Motivation hinter ihrer Arbeit in der Liebe zum Menschen. Sie will etwas von ihrem Glück zurückgeben.

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    „Nach ein paar Tagen in Österreich begannen mich meine Emotionen zu zerstören. Der Schmerz von allem, was passierte, die damit verbundenen Schuldgefühle, dass ich meine Heimat und meine Arbeit verlassen hatte“, erzählt die Ärztin. „Die Sehnsucht nach geliebten Menschen und Verwandten raubte mir den Atem. Die körperliche und emotionale Erschöpfung war einfach zu groß. Deshalb rief ich den Chefarzt des Transkarpatischen Zentrums für Augenmikrochirurgie, Valery Belyaev, an, teilte meine Gedanken mit und fragte, ob ich im Zentrum nützlich sein könnte. Ich erfuhr, dass der Direktor des Zentrums, Oleg Moroz, seit den ersten Kriegstagen an der Front war.“

    Die Entscheidung in ihr Heimatland zu fahren, um zu helfen, wurde schnell getroffen. Am 23. Mai 2022 fand Tetianas erste Reise nach Uschgorod statt, wo die Ärztin Patienten mit schweren Hornhauterkrankungen konsultierte. Seitdem finden jeden Monat Konsultationen in Uschgorod statt, für die Tetiana aus Österreich anreist. Im Herbst führte sie die erste penetrierte Hornhauttransplantation in Transkarpatien durch.

    Außerdem wurde Frau Gaidamaka in die Klinik AILAZ nach Kiew eingeladen. Es war notwendig, eine Keratoplastik für ältere Patienten durchzuführen, die aufgrund eines schlechten körperlichen Zustands und wegen des Krieges nicht zur Operation nach Odessa fahren konnten. Später führten Tetiana und ihre Kollegen in Kiew zwei Hornhauttransplantationen durch. Seitdem kommt die Ärztin alle zwei Monate in die Hauptstadt.

    In beiden Kliniken werden unsere Verteidiger, das Militär und die Flüchtlinge kostenlos beraten und behandelt, einschließlich der Operationen. Beide Kliniken leisten ständig humanitäre Hilfe für die Armee.

    Aber das Pendeln zwischen Österreich und der Ukraine ist nicht leicht. Tetiana erinnert sich noch sehr gut an die erste Reise im Mai. „Als ich das erste Mal nach Uschgorod ging, war ich sehr besorgt. Mit dem Bus die Strecke Wien-Budapest, dann mit dem Auto Budapest-Uschgorod. Als ich die Grenze überquerte, wurde es so ruhig. Seit Kriegsbeginn habe ich nicht so gut geschlafen wie in der ersten Nacht in Uschgorod. Davor bin ich jede Nacht aufgewacht, und oft fiel dies mit Raketenangriffen und Alarmen in Odessa zusammen. Der Weg nach Kiew ist länger, aber auch ok, mit dem Zug oder Bus. Bei meiner Rückkehr muss ich die Grenze länger überqueren, zwischen zwei bis zwölf Stunden muss ich dort warten. Aber das ist kein Problem. Die Hauptsache ist: Ich kann mich nützlich machen.“

    Ärztin Tetiana Gaidamaka mit ihrem Patienten Ivan (Mitte). Foto: Privat

    Während ihrer Reisen in die Ukraine trifft Tetiana viele Leute. Einige Lebensgeschichten berühren sie zutiefst. Aufgeregt erzählt sie mir über ihren Patienten Ivan, den sie in Uschgorod operierte.

    Er meldete sich in den ersten Kriegstagen freiwillig an die Front, ohne sich vorher einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Eigentlich durfte er nicht mobilisiert werden, weil er an einer chronischen Augenkrankheit und Sehbehinderung leidet. Im Krieg erlitt er eine Kontusion, sein Sehvermögen nahm noch mehr ab. Als sich der Allgemeinzustand besserte, führten Tetiana und ihre Kollegen eine perforierende Keratoplastik durch. Die Sehkraft hat sich von 2 Prozent auf 50 Prozent erhöht. Keratoplastik beinhaltet eine lange Rehabilitation. Tetiana hofft, dass sich Ivans Sehvermögen weiter verbessern wird.

    Noch eine Geschichte ist ihr stark in Erinnerung geblieben: Einmal, auf dem Weg nach Wien, waren sieben Passagiere im großen Auto. Die Fahrerin war eine junge Frau aus der Nähe von Kiew. Ihre ganze Familie verbrachte während der Besetzung mehrere Wochen im Keller. Ihre Wohnung, ihr Geschäft, ihr Café – alles wurde geplündert. Nach der Befreiung von den Besatzern zog die Familie nach Uschgorod. Im Auto saß auch eine Familie aus Irpin, eine Mutter, Großmutter und ein 9 Monate alter Junge, deren Haus von russischen Soldaten besetzt wurde. Alle unteren Stockwerke wurden zerstört, ausgeraubt und verschmutzt. Noch eine Passagierin war eine junge Frau, die ihren Mann verloren hatte. Er ist an der Front gefallen. So viel Leid in einem Auto.

    Tetiana Gaidamaka erzählt mir, wie sehr die Einwohner Österreichs den Ukrainern helfen, wie sehr sie sympathisieren. „In unserem kleinen Mauerbach“, sagt die Ärztin, „leben etwa 3500 Einwohner. Zu Beginn des Krieges kamen 52 ukrainische Flüchtlinge hierher, jetzt sind es noch 32. Sowohl der Bürgermeister persönlich als auch die Einwohner von Mauerbach helfen mit kostenlosen Wohn- und Schulkosten und anderen Dingen. Wir sehen große Anteilnahme und Unterstützung, auch für uns. Wir zahlen für unsere Wohnung nur die Nebenkosten und sind unserem Vermieter sehr dankbar für dieses Entgegenkommen. Auf diese Weise leben wir unabhängig von staatlicher Unterstützung.“

    Sobald der Krieg endet, hofft Tetiana, dass alle ihre Verwandten und Freunde nach Odessa zurückkehren. Dann kann die Ärztin all ihre Lieben wieder treffen und umarmen.

    „Und dann erholen Sie sich endlich?“, frage ich vorsichtig.

    „Nein“‚ lächelt Tetiana, „dann kann und will ich noch mehr arbeiten …“